Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
wieder vergehen. Hari würde sagen, ich litte an Alexithymie – der Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken – oder einer klinischen Depression, was die landesweite Lieblingsursache für Schaflosigkeit und Essstörungen war.
Als Burns schließlich zurückkam, starrte ich blind die Wand hinter seinem Schreibtisch an, doch zumindest hatte ich die Kekspackung zur Hälfte geleert.
»Sie bekommt den Mund gar nicht mehr zu«, erklärte er. »Der Arzt hat versucht, nach ihrem Gesicht zu sehen, aber sie redet wie ein Wasserfall.«
»Ist ihre Mum okay?«
Er nickte knapp. »Sie hatte sie in einem Zimmer unten eingesperrt. Vorher hatte sie sie und die Leibwächter sediert. Die Sanitäter hatten Angst, dass das alte Mädchen einen Herzinfarkt bekommen würde, als sie wieder zu sich kam. Deshalb haben sie ihr erst mal nicht gesagt, dass Sophie die Killerin war. Damit wollen sie noch warten, bis sie wieder halbwegs bei Kräften ist.«
»Und Kingsmith?«
»Ihn hat sie als Letzten umgebracht. Anscheinend hat sie bis zum Schluss gehofft, dass er sich noch ändert. Aber er war nicht bereit, sich dafür zu entschuldigen, dass er einer von Poppys Kunden war, und deshalb hat sie ihn am Ende einfach abgeknallt.«
Ich zuckte zusammen. »Und woher hatte sie das Rohypnol?«
»Das ist ja wohl nicht schwer zu kriegen. Wahrscheinlich hat sie eine Großpackung für weniger als hundert Pfund im Internet bestellt.«
Ich rieb mir die Augen. »Dann hat sie also alle diese Männer umgebracht, weil sie bei Polly waren. Aber was hat Jamie Wilcox dort gewollt? Das ergibt nicht den geringsten Sinn.«
»Wahrscheinlich stand er unter Gruppenzwang. Ich wette, die großen Tiere haben ihn auf einen Drink in einen Pub geschleppt und dafür gesammelt, dass der arme Kerl auch endlich mal zu ihrem Lieblingsmädchen gehen kann.«
»Als Initiationsritus.«
Burns zog die Brauen hoch. »Ist wahrscheinlich besser, als wenn man einem Huhn den Kopf abbeißen muss.«
Ich starrte ihn entgeistert an, nahm ihn aber nur noch verschwommen wahr. Ich erinnerte mich an die Videoaufnahme des jungen, breitschultrigen Kerls mit der Kapuzenjacke, von dem Leo Gresham in den Tod gestoßen worden war. Anscheinend hatte Sophie diese Jacke irgendwo gekauft und ihr Vorhaben dann ohne auch nur einen Hauch von Schuldbewusstsein durchgeführt. Mit dem unechten, langen blonden Haar hatte sie erneut eine Verwandlung durchgemacht und war die Art von Frau geworden, die in überfüllten Kneipen Männer aufriss und Gefängniswärter dazu brachte, als Drogenkuriere zu fungieren.
Ich verstand noch immer nicht, wie sie in den Besitz von Rayners Kamera gekommen war, konnte mich aber daran erinnern, dass sie darüber gejammert hatte, dass sie pausenlos zu irgendwelchen Essen eingeladen war. Als Frau des großen Bosses hatte sie natürlich das gesamte Führungspersonal der Bank gekannt, öfter einmal irgendeine indiskrete Äußerung von einem angetrunkenen Gast gehört und sich vielleicht irgendwann mal unbemerkt den Generalschlüssel von Kingsmith ausgeliehen, um Rayners Bürotür aufzusperren.
»Wussten Sie, dass sie und Piernan dicke Freunde waren?«, fragte Burns.
Die Fülle an Informationen überforderte mein Hirn. Ich schloss die Augen, doch die Bilder schwanden nicht. Sie hatte ihn bestimmt betäubt, ins Bad gezerrt, ihm die Pulsadern geöffnet und die Engelkarten und das Rohypnol in seiner Wohnung hinterlegt. Um ganz sicherzugehen, dass sie nicht in Verdacht geriete, hatte sie auch eine Engelkarte an sich selbst geschickt.
»Dann steckt sie sicher auch hinter dem Überfall auf mich.«
Wieder nickte Burns. »Sie sind nicht gerade Ihre beste Freundin. Aber für den Angriff haben Sie sich jetzt ja revanchiert.«
»Ihr Anwalt wird bestimmt auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Wegen einer postnatalen Psychose oder so.«
Burns schüttelte vehement den Kopf. »Sie hatte diese Taten bereits vor der Schwangerschaft geplant. Wir haben inzwischen ihre Krankenakte eingesehen. Sie hatte als Teenager mal einen psychotischen Schub und versucht, sich umzubringen. Aber ich glaube nicht, dass das der Grund für diese Überfälle war. Meiner Meinung nach hat sie all diese Leute aus einer verdrehten Vorstellung von Liebe heraus umgebracht – sie hat herausgefunden, dass ihr Mann sie hintergangen hat, und alle dafür leiden lassen.«
»Aber warum hat sie sich die Mühe mit den Federn und den Postkarten gemacht?«
Burns überlegte kurz. »Ihr Vater war Vikar. Vielleicht hat das sündige
Weitere Kostenlose Bücher