Blutiger Engel: Thriller (Ein Alice-Quentin-Thriller) (German Edition)
und so beugte ich mich über ihn, küsste seine Stirn und lächelte zurück. Wie hatte ich mich jemals vor ihm fürchten können? Jetzt konnte ich sehen, wie jung er war. Während er dort auf dem Boden lag, fielen die Jahre von ihm ab. Er hätte auch erst zwölf sein können, ein sorgloses Schulkind, das im Einschlafen begriffen war.
»Du darfst nicht schlafen, Darren«, flehte ich. »Los, rede mit mir.«
Er drückte meine Hand, und plötzlich wurden seine Finger schlaff. Ich hatte auch schon vorher Menschen sterben sehen, im Rahmen meiner Ausbildung am Krankenhaus, aber einen Tod wie diesen hatte ich noch nicht erlebt. Die Spuren, die das Leben Darren ins Gesicht gegraben hatte, waren wie ausgelöscht – die schmuddeligen Absteigen, in denen er gehaust hatte, die Schläger, die ihm im Gefängnis aufgelauert hatten, all die Nächte auf eisigen Parkbänken, wenn nicht einmal im Obdachlosenheim noch Platz für ihn gewesen war. All dies Leid fiel von ihm ab, und als er die Augen schloss, war er wieder ein unschuldiger junger Mann.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort kniete und Darrens Hand hielt, bis mir ein Sanitäter auf die Füße half. Burns lehnte an der Wand und sah mich an. Er presste die Lippen so fest aufeinander, als müsste er sich alle Mühe geben, um nicht laut zu schreien.
»Warum haben Sie nicht gewartet, Alice? Sie können von Glück reden, dass Sie noch am Leben sind.«
»Dissoziation.«
Er runzelte die Stirn. »Ersparen Sie mir die Fachbegriffe, ja?«
»Es ist, wie wenn Sie sich schneiden. Bevor der Schmerz einsetzt, sind Sie erst mal einen Augenblick lang völlig taub.«
Burns starrte mich noch immer an, als spräche ich chinesisch. Als ich ihm die Engelkarten zeigte, blickte er ungläubig in den Schuhkarton, als dächte er, sie flögen jeden Augenblick einfach davon. Dann entdeckte ich die blonde Perücke, die an einem Haken hing, und langsam wurde mir bewusst, dass Sophie selbst ihr Kind geopfert hätte, nur, um sich dafür zu rächen, dass sie hintergangen worden war.
»Wo ist Molly?«, fragte ich.
»In Sicherheit. Keine Angst, man kümmert sich bereits um sie.«
Es dauerte scheinbar ewig, bis ich das Haus endlich verlassen konnte, und allmählich ließ mein Körper mich im Stich. Burns musste mich stützen, als ich auf die Straße trat, viel zu erschöpft, um auch nur den Kopf wegen des dichten Regens einzuziehen. Das Wasser strömte über die Windschutzscheibe meines Wagens, und er sah mich ängstlich von der Seite an, als er sich hinter das Lenkrad schwang. Er fragte irgendwas, als er den Motor anließ, aber ich brachte noch immer keinen Ton heraus. Alles, was ich sah, waren Darrens Roller, der am Rand der Straße stand, und der Helm, der sich langsam mit Regenwasser füllte, weil er umgekehrt am Lenker hing.
47
Ich konnte nicht sagen, ob der einsetzende Schock oder meine nassen Kleider mich am ganzen Körper zittern ließen, als ich mühsam die paar Stufen vor dem Eingang des Reviers erklomm. Unter Führung von Dean Simons stürzte schon die erste Horde Fotografen auf mich zu.
»Na, was haben Sie diesmal angestellt, Alice?« Seine Stimme war zu laut und rau vom Fusel, den er sicher literweise trank.
Burns bahnte uns einen Weg durch das Gedränge und ich starrte vor mich auf den Boden und versuchte, das Geschrei um mich herum und die Blitze der Kameras zu ignorieren.
Doch kaum dass wir durch die Tür getreten waren, blickte ich ihn an.
»Können Sie den Kerl nicht wegen irgendwas verhaften?«
»Wegen Belästigung oder Störung der Privatsphäre?«, schlug er mir vor.
»Am besten wegen beidem«, stimmte ich ihm zu.
»Ich werde sehen, was ich machen kann.«
Als wir den Einsatzraum erreichten, weigerte sich Taylor rundheraus, mir ins Gesicht zu sehen. Wahrscheinlich aus verletztem Stolz – weil der Sieg am Ende ganz eindeutig nicht an ihn gegangen war. Falls Brotherton tatsächlich Einsparungen plante, wäre er der Erste, der auf ihrer Abschussliste stünde, und das wusste er genau. Hocherhobenen Hauptes führte Burns mich an dem Kerl vorbei in sein Büro, stellte mir einen Becher Kaffee auf den Tisch und hielt mir eine Packung Kekse hin.
»Essen Sie erst mal etwas. Ich bin in zehn Minuten wieder da.«
Ich stopfte mir ein Plätzchen in den Mund und trank zähneklappernd einen Schluck Kaffee. Ich versuchte zu verstehen, warum ich noch immer nicht in Tränen ausgebrochen war. Mir war schlecht vor Trauer, und wenn ich so weitermachte, würde meine Übelkeit wahrscheinlich nie
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