Blutiger Klee: Roman (German Edition)
sie in der Küche. Riesengroß und kahl erschien sie Leo, sauber
aufgeräumt, kein Topf und keine Tasse stand herum, keine Kräuterbüschel lagen zum
Trocknen ausgebreitet wie bei der Loibnerin. Auf einem Stuhl an einem Tisch saß
der alte Jakob und war eingenickt. Pestallozzi ging auf ihn zu und berührte ihn
an der Schulter, der alte Mann schreckte hoch und sah ihn einen Moment lang mit
leeren Augen an, dann versuchte er aufzustehen. Pestallozzi drückte ihn sanft auf
den Stuhl zurück, er angelte nach einem weiteren Stuhl und setzte sich und bedeutete
Leo, es ihm nachzumachen.
»Herr Rittlinger,
das war ganz bestimmt ein sehr schwerer Tag für Sie«, sagte Pestallozzi freundlich.
»Ich habe nur ganz wenige Fragen an Sie, fürs Erste. Sie haben also für den Herrn
Gleinegg gearbeitet. Wohnen Sie auch hier im Haus?«
Der alte
Mann nickte.
»Seit fast
20 Jahren. Seit dem Tod der Frau Baronin. Früher bin ich nur für die Arbeit raufgekommen.
Aber dann bin ich ganz hierhergezogen. Der Herr Baron hat mir ein Zimmer zugewiesen.«
»Leben Sie
beide alleine hier?«
Der alte
Mann nickte wieder.
»Früher
haben wir oft Gäste im Haus gehabt, der Herr Baron hat ja große Jagdgesellschaften
gegeben, da sind seine Freunde von weither gekommen. Sogar aus Kanada und Südafrika.
Aber solche Einladungen gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Nur die Kinder kommen.
Manchmal.«
»Und Sie
betreuen ihn?«
Der alte
Jakob Rittlinger war längst in dem Alter, in dem er selbst hätte umsorgt werden
müssen, dachte Pestallozzi. Aber der nickte nur, nicht ohne Stolz.
»Die Wäsche
wird abgeholt und unten im Ort gewaschen. Und zum Saubermachen, für die Teppiche
und die Fenster, da kommt die Loibner Magdi herauf. Für alles andere bin ich zuständig.
Der Herr Baron isst am liebsten Krautfleisch.«
Pestallozzi
nickte. Er versuchte sich das Leben der beiden alten Männer in diesem riesigen Kasten
vorzustellen, beide allein nach so vielen gemeinsam verbrachten Jahren unter einem
Dach. Hatte sich da irgendwann Nähe ergeben, ein Hauch von Vertrautheit? Hatte sich
der alte Gleinegg einmal zum Jakob in die Küche gesetzt, wenn der die Dose mit dem
Krautfleisch aufwärmte? Hatte er an einem kalten finsteren Winterabend einmal gesagt
›Komm her, Jakob, und setz dich zu mir und trink einen Schnaps mit mir‹? Oder hatten
sie das ganze Theater mit ›Sehr wohl, Herr Baron‹, ›Bitte schön, Herr Baron‹ durchgezogen
bis zum bitteren Ende? Der alte Mann ihm gegenüber würde nichts davon erzählen,
das stand fest.
»Die Loibner
Magdi, ist die mit der Loibner Hanni verwandt?«
»Freilich,
das sind Schwägerinnen.«
Pestallozzi
hatte nichts anderes erwartet. Hier am Land war jeder mit jedem versippt, Blutsbande
waren über die Generationen hinweg quer durch die Orte geknüpft worden wie ein unsichtbares
Netz, das mehr Nachrichten transportierte als jede moderne Internetsuchmaschine.
Sie alle hier hatten ihm so unendlich viel voraus, sie wussten die alten Geschichten,
und er hatte nicht einmal eine Ahnung, an welcher entscheidenden Stelle er mit dem
Fragen beginnen sollte. Aber dies war erst der allererste Tag der Ermittlungen,
irgendwann würden ein Satz, ein Wort oder auch nur ein Tonfall ihn auf die richtige
Spur bringen. Pestallozzi fühlte sich einen Herzschlag lang dem alten Gleinegg nah:
Die Jagd hatte begonnen.
Leo räusperte
sich. Der Tag war lang gewesen, Pestallozzi spürte es plötzlich selbst in allen
Knochen. Wann hatte er eigentlich zum letzten Mal etwas gegessen? Ein Krautfleisch,
heiß aufgewärmt aus der Dose, das wäre jetzt ein richtiges Festmahl gewesen. Aber
es war völlig undenkbar, den alten Jakob darum zu bitten. Ein paar letzte Fragen
noch, dann war es genug für heute.
»Wann haben
Sie den Herrn Gleinegg zum letzten Mal gesehen?«
Der alte
Mann setzte zum Sprechen an, dann versagte ihm die Stimme. Pestallozzi ließ den
Blick durch die Küche wandern. Was wurde wohl aus einem herrschaftlichen Diener?
Wartete ein Platz in einem Seniorenheim auf ihn? Pestallozzi versuchte sich den
Jakob Rittlinger in einem schmucken kleinen Zimmer unter lauter anderen betagten
Männern und Frauen vorzustellen, mit Mahlzeiten in einem großen Saal und resoluten
Schwestern, die ihn hätschelten. Es war keine tröstliche Vorstellung.
Endlich
setzte der alte Mann zum Sprechen an. »Heute Vormittag aus dem Fenster vom Frühstückszimmer.
Ich hab gerade das Geschirr abgeräumt. Da habe ich den Herrn Baron zum letzten Mal
gesehen, wie
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