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Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Blutiger Klee: Roman (German Edition)

Titel: Blutiger Klee: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Faro
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dem
Bett lag und twitterte oder chattete statt für den Geografietest am Mittwoch zu
lernen. Ihre Kinder. Um die herum sie ihr ganzes Leben organisiert hatte, um die
sich alles drehte. Und trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, zu wenig Zeit zu
haben, im entscheidenden Augenblick nie da zu sein. Als der Max beim Turnen im Kindergarten
plötzlich solche Bauchschmerzen bekommen hatte und mit Verdacht auf Blinddarmdurchbruch
ins Landeskrankenhaus gebracht worden war, im Rettungswagen mit Blaulicht. Da war
statt seiner Mama eine Kindergartentante neben ihm gesessen und hatte seine Hand
gehalten. Die Tante war unglaublich nett gewesen und im Krankenhaus hatte sich zum
Glück herausgestellt, dass der Max bloß wieder einmal einen Riesendurcheinander
in sich hineingestopft hatte. Eiernockerln mit viel Ketchup und sehr wenig grünem
Salat, zwei schon ältliche Schokoladeosterhasen mit Nugatfüllung und – verbotenerweise
– Cola am Vorabend, Cornflakes – die eigentlich für Miriam bestimmt gewesen waren
– sowie ein Kipferl mit Marmelade und Kakao zum Frühstück. Beim Purzelbaum rückwärts
war das Ganze dann ins Schlingern geraten. Als sie endlich völlig aufgelöst in der
Aufnahmeambulanz eingetroffen war, hatte sie der Arzt angesehen wie eine Angeklagte.
»Dieses Kind ernährt sich eindeutig höchst ungesund, Frau Kollegin!«
    Und der
Max war so klein und blass dagelegen und hatte ihre Hand umklammert gehalten. »Wo
bist du gewesen, Mama?« Was hätte sie ihm antworten sollen? Die Wahrheit vielleicht?
›Weißt du, ich bin bis zu den Knien in der Salzach gestanden, weil ein Mädchen angespült
worden ist, draußen in der Josefiau, das nicht einmal so alt war wie die Miriam.
Höchstwahrscheinlich.‹
    Also war
sie nur neben ihm gestanden und hatte stumm seine verschwitzte Hand gestreichelt
und die widerspenstigen Haarbüschel aus dem Gesicht ihres Sohnes zurückgestrichen.
So war das, das Chaos überrollte sie immer wieder, so sehr sie sich auch um Ordnung
und ein geregeltes Alltagsleben bemühte.
    Und jetzt
wurde gerade der Gleinegg ausgeladen, draußen vor dem Gerichtsmedizinischen Institut,
dem hintersten Gebäude auf dem weitläufigen Klinikgelände. Für diesen Fall wäre
selbstverständlich die Chefin zuständig gewesen, aber die war gerade auf einem Kongress
im Ausland. Also würde sie selbst im Seziersaal stehen und verantwortlich dafür
sein, dass kein fremdes Haar und kein Kratzer auf der Haut des Opfers übersehen
wurden, dass alles penibelst dokumentiert und festgehalten wurde. Der Kajetan und
die Roswitha standen schon bereit, um sie dabei zu unterstützen, die besten Assistenten,
die sie sich dafür vorstellen konnte. Der alte Mann musste entkleidet werden, die
Wunde musste Millimeter für Millimeter untersucht, vermessen und beschrieben werden.
Welche Rückschlüsse ließen sich auf das Messer und seine Klinge ziehen, wie viel
Kraft war für den Stoß erforderlich gewesen? Sie würde das Skalpell an der Kehle
vom Gleinegg ansetzen und den langen Schnitt hinunter führen, sie würde die drei
Körperhöhlen eröffnen, wie es vorgeschrieben war, den Kopf, die Brust und die Bauchhöhle.
Sie würde die intimsten Stellen dieses Mannes in Augenschein nehmen und betasten.
Seinen Mageninhalt entnehmen, seine Organe wiegen und vermessen. Und sie würde endlich
ihren Namen unter das Obduktionsprotokoll setzen. Wenn sie ordentliche Arbeit leistete,
dann würde es das wichtigste Werkzeug in den Händen der Mordkommission sein. Aber
wenn ihr nur der geringste Fehler unterlief, dann konnte es sein, dass die Ermittlungen
in eine völlig falsche Richtung liefen. Dass ein Mörder davonkam. Oder, viel schlimmer
noch, dass ein Unschuldiger für die Tat zur Rechenschaft gezogen wurde.
    Vor einer
Viertelstunde war sie noch müde und niedergeschlagen gewesen, aber jetzt fühlte
sie, wie das Adrenalin durch ihren Körper pumpte. Dabei hatte sie nicht einmal den
Kaffee getrunken, der in einer Thermoskanne auf ihrem Schreibtisch stand. Sie erhob
sich und ging zum Fenster, das ihr schmales Büro gegen Süden begrenzte. Noch einmal
die Schultern kreisen lassen, ehe sie die nächsten Stunden gebückt und angespannt
über dem Seziertisch stehen würde. »Dieser Job passt zu dir«, hatte Georg, ihr Exmann,
beim letzten, bitterbösen Streit geschrien. »Und weißt du auch, warum? Weil dir
die Toten nicht widersprechen können!« Dann war er türenknallend entschwunden, wieder
einmal, und sie war hinaufgeschlichen in den ersten

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