Blutiger Klee: Roman (German Edition)
hinauf heute wirklich anstrengend erschienen,
und Ihr Vater war immerhin ein Mann von über 90 Jahren.«
»Er ist
ja auch nicht diesen Weg gegangen«, sagte die Tochter vom alten Gleinegg. »Sondern
es führt ein Pfad direkt von unserem Haus durch den Wald hinüber zur Kapelle. Unser
Haus und die Kapelle befinden sich ungefähr auf gleicher Höhe, der Weg dorthin ist
nicht einmal einen Kilometer lang. Das konnte er ohne Weiteres noch gehen, er hat
diesen Spaziergang mehrmals in der Woche gemacht, sogar im Winter.«
»Hatte Ihr
Vater Feinde?«
Paff, jetzt
rang sie nach Luft, die Frau Gräfin. Leo hätte seinem Chef gerne bewundernd zugezwinkert,
aber er ließ es doch lieber bleiben. Die Stille dehnte sich zwischen den drei Menschen
im Raum.
»Bestimmt
hatte er die«, sagte Helene Zilinski endlich. »Aber ich kann Ihnen keine Namen nennen,
ehrlich nicht. Mein Vater war jedenfalls kein einfacher Mann.« Sie hielt kurz inne,
wie um das Gesagte zu überprüfen. »Mit ›einfacher Mann‹ meine ich natürlich nicht,
dass er höhergestellt …«
»Ich weiß,
was Sie meinen«, sagte Pestallozzi freundlich. Er sah auf seinen Spiralblock. »Sie
werden bestimmt verstehen, dass wir jedes mögliche Motiv in Erwägung ziehen müssen.
Kann es sein, dass Ihr Vater irgendwelche wertvollen Gegenstände bei sich trug?
Eine Uhr vielleicht? Oder einen größeren Bargeldbetrag?«
Die Frau
lächelte wehmütig. »Ausgeschlossen. Mein Vater hat nur eine alte Uhr getragen. Und
er hat bestimmt nicht mehr als ein paar Euro in der Tasche gehabt.«
Und ein
paar Millionen auf dem Konto, dachte Leo.
Pestallozzi
klappte seinen Spiralblock zu. »Ich denke, dass wir für heute genügend Antworten
haben. Natürlich werde ich Sie und Ihre Familie in den nächsten Tagen nochmals befragen
müssen.«
Alle waren
bereit aufzustehen, aber Pestallozzi schien nachzudenken und das Für und Wider einer
Frage zu bedenken. Dann sah er die Frau an.
»Ihr Vater
hat Linsen in den Schuhen gehabt. Können Sie sich das irgendwie erklären? Seine
Fußsohlen waren ganz blutig. Wir glauben einfach nicht, dass so etwas ein Versehen
gewesen sein kann.«
Für einen
Moment hatte Leo den Eindruck, dass die Frau in Ohnmacht fallen würde. So muss es
sein, wenn jemandem das Herz stehen bleibt, dachte Leo. So eine Fassungslosigkeit
in den Augen, so ein Erstarren. Er hatte den Eindruck, dass sie alle drei im Raum
aufs Atmen vergessen hatten. Schließlich stand die Frau auf und ging zu dem Fenster,
das den Blick hinunter auf den See freigab. Sie wandte ihnen den Rücken zu, und
Leo wagte einen fragenden Blick zu Pestallozzi. Aber der hob nur die Hand und bedeutete
ihm zu schweigen. Minuten vergingen, dann drehte sich die Frau wieder um. Leo dachte,
dass sie mit aller Macht die Tränen zurückkämpfte, endlich schien sie weich geklopft.
»Wahrscheinlich
werden Sie das nicht wissen«, sagte Helene Zilinski. »Aber der Weg zur Kapelle ist
das allerletzte Stück von einem jahrhundertealten Pilgerpfad. Seit dem fünfzehnten
Jahrhundert kommen die Menschen hierher, früher waren das riesengroße Prozessionen,
jetzt sind es nur mehr kleine Gruppen. Aus dem Bayrischen, aus Südtirol, aus Böhmen.
Und die Pilger haben alle immer Steine aus ihrer Heimat in den Taschen getragen,
die haben sie dann auf diesem letzten Wegstück niedergelegt. Zwischen unserem Haus
und der Kapelle können Sie immer wieder solche Steinhaufen am Waldrand sehen, die
meisten sind schon ganz von Moos und Gestrüpp überwachsen. Und manche von den Pilgern
haben Linsen in den Schuhen gehabt und sind den ganzen Weg mit blutigen Füßen gegangen.
Zur Sühne für ihre Sünden.«
Sie weinte
noch immer nicht, aber sie war nahe daran. Pestallozzi stand auf, und Leo machte
es ihm nach.
»Ich danke
Ihnen«, sagte Pestallozzi.
Dann gingen
sie hinaus in die Halle, wo mittlerweile Düsternis herrschte, dabei schien über
dem See ganz bestimmt noch die Sonne. Leo ließ die Anspannung mit einem tiefen Ausatmen
aus seinem Brustkorb entweichen. Und jetzt, wie sollten sie bloß diese verdammte
Küche finden? Durchs Haus irren? Wo befanden sich Schlossküchen im Allgemeinen,
im Erdgeschoss vermutlich oder gar weiter unten? Pestallozzi wies mit einem Nicken
auf das Halbdunkel unter der Treppe, wo offenkundig weitere Türen in das Winkelwerk
des Hauses führten. Vorsichtig tappten sie immer weiter, öffneten Türen, die in
leere, kalte Zimmer führten, dann ganz hinten bog ein schmaler Gang nach links ab,
und endlich standen
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