Blutiger Klee: Roman (German Edition)
Stock zu den Kinderzimmern.
Miriam hatte zum Glück tief geschlafen, aber Max hatte so übertrieben geatmet und
die Augenlider zusammengepresst, dass ihr beinahe die Tränen gekommen waren.
Draußen
ging eine Gruppe Studenten vorbei, die Mädchen kicherten, eine fuhr sich kokett
durchs Haar und hakte sich bei dem großen schlaksigen Dunkelhaarigen unter. Lisa
Kleinschmidt sah ihnen nach. Im Flirten war sie nie gut gewesen. Sie war immer die
Ernsthafte gewesen, die lieber diskutierte als schäkerte. Und genau das hatte dem
Georg auch so gut gefallen, jedenfalls am Anfang ihrer Beziehung. Später hatte er
immer öfter entnervt die Augen verdreht, wenn sie ihre Meinung geäußert hatte. Aber
was uns zu Beginn einer großen Liebe zum anderen hinzieht, das stößt uns nach einiger
Zeit ganz besonders ab. Diese Weisheit hatte sie in einem Beziehungsratgeber für
Paare gelesen, den sie sich in ihrer Verzweiflung gekauft hatte, als es mit Georg
immer schlechter lief. Und irgendwie stimmte das ja auch. Sie war beim Kennenlernen
so hingerissen gewesen von der Leichtigkeit, mit der er durchs Leben kurvte. Bis
sie begriffen hatte, dass die Leichtigkeit in Wirklichkeit nur Oberflächlichkeit
war. Der strahlende junge Kieferchirurg, der davon schwadronierte, dass er seine
Ferien unbedingt für ›Ärzte ohne Grenzen‹ auf den Philippinen oder in Indien verbringen
wollte. Bloß, dafür war dann nie Zeit gewesen. Stattdessen hatte Georg die Praxis
seines Vaters übernommen und ständig weiter ausgebaut. Und heute verdiente er sich
dumm und dämlich mit Bleachings und unsichtbaren Zahnspangen für Erwachsene und
lächerlich weißen Zahnkronen, die er seiner betuchten Klientel aufschwatzte. Und
mit der Gundula war er verheiratet, seiner ehemaligen Sprechstundenhilfe. Alle hatten
von dem Verhältnis gewusst, nur sie nicht, es war wie im Schundroman gewesen. Peinlich.
Einfach nur lächerlich. Und zum Heulen.
Ob sie noch
einmal zu Hause anrufen sollte? Die Miriam ermahnen, für Geografie zu lernen? Und
ein wenig mit dem Max zu albern? Aber dann würde es unweigerlich wieder Diskussionen
geben. Warum kommst du nicht nach Hause, Mama? Du hast gesagt, dass du mir eine
Geschichte vorliest. Doch, das hast du versprochen! Plötzlich sehnte sie sich danach,
endlich in dem kühlen Saal unten im Kellergeschoss zu stehen. Die Tür würde hinter
ihr zufallen und Stille würde sie umgeben, schon bald. Im Fernsehen waren Gerichtsmediziner
ja seit einiger Zeit geradezu Kultfiguren, coole Typen, die zu Rockmusik um die
Tische tänzelten und lockere Sprüche klopften. Für sie war das unvorstellbar. Sie
fühlte noch immer Respekt vor den Toten, auch wenn sie schon Hunderte Obduktionen
durchgeführt hatte. Auch wenn …
Es klopfte,
Lisa Kleinschmidt wandte sich vom Fenster ab. Ihr Assistent Kajetan stand im Türrahmen.
»Wir können anfangen, wenn es Ihnen recht ist, Frau Doktor!«
Sie nickte
und steckte sich noch rasch ein Hustenbonbon in die Manteltasche. Dann folgte sie
ihm über die geschwungene Treppe ins Kellergeschoss hinab. Neonröhren erleuchteten
den Gang, an den Wänden hingen Schautafeln, die spektakuläre forensische Untersuchungen
des Instituts dokumentierten. Die Überreste des berühmten Erzbischofs Wolf Dietrich,
die man bei der Gruftöffnung in einer Plastiktüte vorgefunden hatte, Grabräuber
waren schon vorher da gewesen. Die Gebeine eines Abtes, die mit modernster Technik
durchleuchtet worden waren. Noch nach Jahrhunderten hatte man Zahnfisteln und gebrochene
Rippen nachweisen können, der Abt musste zu Lebzeiten schauerliche Schmerzen gelitten
haben. Die Zeitungen hatten ausführlich berichtet und die Detektivarbeit des Gerichtsmedizinischen
Instituts gelobt. Sogar Miriam war ausnahmsweise einmal stolz auf den Job ihrer
Mutter gewesen, den sie sonst meist nur peinlich fand.
Die Tür
zum Seziersaal stand offen, Kajetan blieb stehen und ließ ihr den Vortritt. Sie
machte zwei Schritte in den hellerleuchteten gekachelten Raum, Roswitha wartete
schon neben den Instrumenten und sah ihr erwartungsvoll entgegen. Kajetan schloss
die Türe. Lisa Kleinschmidt machte einen weiteren Schritt auf den Mann zu, den sie
bereits auf der Bank vor der Kapelle oberflächlich untersucht hatte. Er lag auf
der Nirostafläche des Tisches wie aufgebahrt, seine Kleidung war schmutzverkrustet,
sein gelblich bleiches Gesicht hager und bereits verschlossen von der Macht des
Todes. Lisa Kleinschmidt beugte sich über ihn, sie nahm den Gestank seiner
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