Blutiger Klee: Roman (German Edition)
Kleider
kaum wahr. Du hast recht gehabt, Georg, dachte sie. Dieser Job passt zu mir. Nicht,
weil mir die Toten nicht widersprechen können. Sondern weil sie mir etwas zu erzählen
haben. Nur wenige Menschen haben die Geduld, ihnen zuzuhören.
Sie richtete
sich wieder auf.
»Fangen
wir an«, sagte sie zu ihren Helfern. Sie wandte den Blick nicht von dem Leichnam,
der einmal der Baron Gleinegg gewesen war.
*
Rätselhaft, wie man sich so anziehen
kann! In diesem Alter, dachte sich die 32-jährige Anna Luggauer, als sie sich ihren
Weg durch die Getreidegasse bahnte oder besser gesagt erkämpfte. Die Gruppe von
Touristinnen stand schräg gegenüber vom ›Goldenen Hirsch‹, dem nobelsten und berühmtesten
Hotel der Stadt, sie trugen allesamt T-Shirts mit Spaghettiträgern zu madenweißen
Oberarmen, viel zu kurze Shorts über wabbeligen Waden und zur Abrundung des Gesamtbildes
bequeme Birkenstocksandalen an den Füßen. Und sie befanden sich in einem Zustand
schierer Verzückung.
»Die Begum«,
jauchzte eine Blondine im türkisfarbenen Top. »Gerade ist sie reingegangen, habt
ihr das gesehen?«
Die anderen
aus der Gruppe nickten heftig und starrten auf das Portal vom ›Goldenen Hirsch‹.
Dorthinein war sie verschwunden, die Begum, in einem wehenden Kleid aus rosa Chiffon,
sie hatten sie ganz eindeutig erkannt, schließlich war sie ständig in allen Klatschmagazinen
abgebildet. Nur was für ein Jammer, dass sie sie erst im letzten Moment entdeckt
hatten, bis alle ihre Digitalkameras und Fotohandys hochgereckt gehalten hatten,
war nur mehr der Rücken zu sehen gewesen. Aber der reichte völlig, um nächste Woche
zu Hause im Mittelpunkt jedes Kaffeekränzchens zu stehen. Also, ihr glaubt es nicht,
wir gehen da so durch diese Getreidegasse und plötzlich, wer steht vor uns und lächelt
uns an – die Begum!
Oder sonst
irgendeine blond gefärbte Tussi mit aufgespritzten Lippen, dachte Anna. Die sehen
doch mittlerweile alle gleich aus, wie die Abziehbilder. Gruselig muss das sein
bei diesen ganzen Premieren und Empfängen und Cocktails, als ob man ständig seinem
Spiegelbild gegenüberstehen würde. Ob das den Männern wirklich gefällt? Aber was
soll’s, ich hab andere Sorgen.
Sie hastete
weiter durch die schmale Gasse, in der sich bereits in der Früh die Menschen drängten
und auf die Zehen stiegen. Japaner scharten sich um einen Guide, der einen knallgelben
Schirm in die Höhe hielt. Studenten mit weißen Lockenperücken und roten Gehröcken
verteilten Werbezettel, auf denen Mittagsmenüs und Original Salzburger Nockerln
zu Dumpingpreisen angepriesen wurden. Vor Mozarts Geburtshaus nahm das Durcheinander
aus schwitzenden Leibern und quengelnden Kindern geradezu beängstigende Ausmaße
an, Touristen knipsten wie wild jeden Stein. In dieser Stadt wurde nun einmal jeder
Quadratzentimeter vermarktet. Wenigstens waren auf den schnörkelig gerahmten Fotos
in den Auslagen seit einiger Zeit immer öfter schöne junge Opernsängerinnen zu sehen
und nicht mehr die alten Nazi-Dirigenten.
Anna scherte
nach links aus, in eine der kleinen Passagen, die hinunter zur Salzach führten.
Hier lag ›Anitas Fashion Corner‹, die Boutique, in der sie sich in den Uniferien
etwas dazuverdiente. Anna hatte die aufgebrezelte Anita vor zwei Jahren in einem
Biergarten kennengelernt. Nach einem Jahrzehnt, in dem sie ihren Lebensunterhalt
hauptsächlich mit Jobs wie Animateurin und Kellnerin bestritten hatte, war Anna
an ihrem 30. Geburtstag von einer schweren Existenzkrise überrascht worden. Wollte
sie immer so weitermachen? Welcher Urlaubsklub auf Ibiza brauchte schon eine 40-jährige
Animateurin? Und auch als Kellnerin verdiente man das überlebenswichtige Trinkgeld
hauptsächlich mit einem jungen Gesicht und einem knackigen Ausschnitt, Emanzipation
hin oder her. Im darauffolgenden Herbstsemester hatte sie sich an der Fachhochschule
für Pädagogik eingeschrieben, schwitzend vor Aufregung zwischen all dem jungen Gemüse.
Und es war erstaunlich gut gegangen, niemand hatte sie ausgelacht, weder die Kommilitonen
– die im Fach Pädagogik bedauerlicherweise hauptsächlich Mitstudentinnen waren –
noch die Professoren. Nach vier Semestern konnte sie einen ausgezeichneten Notendurchschnitt
vorweisen, die Seminararbeiten schrieb sie mit einem Ehrgeiz, den sie sich selber
nie zugetraut hätte. Im kommenden Semester wollte sie Vorlesungen über die Arbeit
mit autistischen Kindern inskribieren, es war ihr größter Wunsch, später
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