Blutiger Klee: Roman (German Edition)
Kehle bis über den Nabel
hinab, die mit groben Stichen wieder vernäht worden war. Die kleine runde Wunde
links neben dem Nabel klaffte noch immer auf, aber zum Glück hingen keine Därme
mehr heraus.
»Gicht hat
er gehabt und Krampfadern und eine chronische Gastritis, aber sonst war er für sein
Alter noch richtig gut beisammen«, sagte Dr. Lisa Kleinschmidt. Pestallozzi sah
skeptisch drein.
»Doch, doch.
So wirst du auch einmal ausschauen. Falls du das Glück hast, so alt zu werden.«
Sie grinste
ihn an, Pestallozzi grinste schief zurück.
»Du meinst,
dann habe ich endlich keine Gewichtsprobleme mehr?«
»So ungefähr.
In diesem Alter haben die wenigsten noch ordentlich Appetit. Der Gleinegg hat Reste
von einer Gulaschsuppe im Magen gehabt und so eine Art Striezel, den er offenbar
zum Frühstück gegessen hat. Und einen Apfel.«
»Einen ganzen
Apfel?«
Sie wiegte
den Kopf.
»Schwer
zu sagen. Das war jedenfalls alles. Und Marcumar hat er genommen, das Blutverdünnungsmittel,
das hat er sicher gegen die Thrombosegefahr verschrieben bekommen. Das hat natürlich
zu einem extrem schnellen Blutverlust nach der Stichverletzung geführt. Selbst wenn
jemand sofort die Ambulanz alarmiert hätte, wäre er kaum mehr zu retten gewesen.«
»Kannst
du mir etwas über die Wunde sagen?«
Sie seufzte.
»Ein kleines
scharfes Messer ohne Einkerbungen an der Schneidefläche. So wie der Einstichkanal
ausschaut, muss der Täter neben ihm gesessen sein und von links zugestochen haben.
Einmal, aber mit großer Kraft. Das hat ihm die Bauchdecke und das Bauchfell durchstoßen,
den Dünndarm durchtrennt und sogar die Aorta angeritzt. Deshalb hat er auch so stark
in die Bauchhöhle hineingeblutet. Das Messer ist nicht gedreht, sondern gleich wieder
herausgezogen worden. Ich habe keinen Kratzer und keine Spuren von irgendeiner Abwehrreaktion
an seinen Händen finden können. Er muss völlig überrascht gewesen sein.«
Sie sahen
auf den nackten Leichnam hinab und hingen den gleichen Gedanken nach. Wer bringt
einen Mann von über 90 Jahren um, mit solcher Erbitterung? Sollte da nicht jeder
Hass von früher längst erloschen sein? Wie war es diesem ausgemergelten alten Mann
bloß gelungen, eine solche Kaltblütigkeit in seinem Gegenüber zu verursachen? Du
hast Menschen zusammengestaucht, die sich in deine Kirchenbank setzen wollten, dachte
Pestallozzi. Und so, wie du da liegst und noch im Tod arrogant dreinschaust, hältst
du das wahrscheinlich nicht einmal jetzt für einen Irrtum. Er wandte sich ab. »Und
was ist mit dieser Apfelschale? Die der Leo gefunden hat?«
»Ich habe
sie ins Labor geschickt. Vielleicht können die noch einen Abdruck sichern. Aber
es würde mich wundern.«
»Danke,
Lisa.« Er sah sie an und lächelte. »Wie geht’s den Kindern?«
Sie rollte
die Augen. »Der Max wünscht sich einen Hund zum Geburtstag! Alle anderen Kinder
haben einen!«
»Und alle
anderen Kinder dürfen am Abend aufbleiben, oder nicht?«
Jetzt mussten
sie beide lachen, es tat gut in dem kalten Raum.
»Wir müssen
wieder einmal etwas trinken gehen«, sagte Pestallozzi.
»Artur,
das sagst du schon seit Monaten.«
»Ich weiß
ja. Aber …«
»Aber die
Arbeit, ja, ich weiß.«
Sie lächelte
noch immer, voller Sympathie und Verständnis. Artur hätte einen guten Vater abgegeben,
dachte sie.
Lisa ist
ein Schatz, dachte Pestallozzi. Nie hat mich Iris so angelächelt, wenn ich wieder
einmal zu einer Geburtstagsfeier von einer ihrer 500 Cousinen zu spät gekommen bin.
Hoffentlich findet die Lisa einen netten Mann, das hätte sie sich wirklich verdient.
Auf die Idee, sich selbst ins Spiel zu bringen, kam er nicht. Pestallozzi hielt
sich für nicht mehr vermittelbar.
Er verabschiedete
sich von Lisa Kleinschmidt und machte sich auf den Weg zurück ins Polizeipräsidium.
Zu Fuß, diese Viertelstunde brauchte er jetzt einfach. Pestallozzi liebte das Gehen,
immer einen Fuß vor den anderen setzen und dabei nachdenken, für ihn gab es nichts
Besseres, um einen klaren Kopf zu bekommen. Und sein Kopf steckte zur Zeit wie in
Nebelschwaden, er hatte ein Gefühl, als ob er ständig nach Fäden haschte, die eine
unsichtbare Hand im letzten Moment wieder an sich riss. So viele Menschen hatten
diesen alten Mann offenbar verabscheut, aber keinen von ihnen konnte sich Pestallozzi
mit einem Messer in der Hand vorstellen. Das entscheidende Gefühl, das ihn stets
der Lösung des Falls näher brachte, hatte ihn noch nicht gepackt. Dieser Schauer,
der ihm dann
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