Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
ist?«
»Boim beschte Wille net.« Die alte Frau schüttelte den Kopf. »I hen mir den Kopf zerbroche, aber Wichtiges het die Familie immer auf Italienisch beschproche.«
Fabian konnte sich gut vorstellen, wie die alte Frau über dem Schlüsselloch gehangen und gelauscht hatte. »Frau Hegele, könnten Sie uns vielleicht die gesammelte Post kurz durchsehen lassen?«, schlug er vor. Als sie das Zimmer verlassen hatte, um die Briefe zu holen, lehnte sich Keller zurück. »Ein gewalttätiger, alkoholsüchtiger Vater … Alessio scheint nach seinem Tod den Halt verloren zu haben.«
»Oder er hat nachgeholfen«, sagte Fabian leise. »Vielleicht wollte er seine Mutter schützen und hat die Tabletten ausgetauscht.«
»Um ihn das zu fragen, müssen wir ihn erst einmal haben.«
Fabian nickte und nahm sich fest vor, die Stuttgarter Kollegen noch heute auf die Gruppe Straßenkinder in der Innenstadt anzusetzen.
Frau Hegele kam mit einem schmalen Häuflein Post zurück, das sie auf dem Wohnzimmertisch deponierte. Nachdenklich betrachteten die Polizisten die Absender, öffneten die Briefe aber nicht. Da waren einige Schreiben von der Krankenkasse, Arztrechnungen, die Agentur für Arbeit, eine Handyrechnung, die sicher unbezahlt geblieben war. Nichts Weltbewegendes, dachte Fabian. Ein privater Brief war auch dabei, beschrieben mit der eckigen Druckschrift der Südeuropäer, abgestempelt in Süditalien.
»Reggio Calabria«, las Fritz Keller vor. Einen Absender gab es keinen.
»Was ist eigentlich mit dem Rechner von Alessio?«, fragte Fabian.
»Dem Computer? Die Familie Cortese hätt zwoi ghätt. Boide hen ein paar junge Italiener vor etwa einer Woch naustrage. I han se im Treppehaus ghört. Oin Bildschirm isch ihne runtergerasselt.«
»Herrgottsdonnerblitz«, fluchte Fritz Keller und nickte, als hätte er das bereits vermutet. Fabian zuckte die Schultern. Keller hatte sich seinem Verdacht nicht anschließen wollen. Jetzt stellte sich heraus, dass der Junge eine tickende Zeitbombe war und dass es Landsleute von ihm gab, denen es sehr recht war, wenn die Geheimnisse der Familie nicht enthüllt wurden.
»Wartet Se! Ich glaub, ich hab da was, das Sie interessiere könnt.« Frau Hegele ging in die Küche und kramte in einem Stapel Papier, der sich auf ihrer Obstschale türmte. Triumphierend hielt sie einen Moment später einen Zettel in die Höhe. »Die Italiener, die mit den Computern, die sin mit oim Laschtwage komme, auf dem stand oin Name.« Das Stückchen Papier war zerknüllt, als hätte es schon im Altpapier gelegen. Fabian konnte den krakelig darauf geschriebenen Namen »Alberto Cortese, Import, Export« nur mühsam entziffern, notierte ihn aber trotzdem sofort in sein Notizbuch.
»Könnet Se da was mit afange?«
»Das können wir, Frau Hegele«, sagte der Kommissar. »Danke.«
Sie verabschiedeten sich und zogen die Wohnungstür hinter sich zu.
»Ich könnte einen Kaffee vertragen«, sagte Keller und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Sie standen auf dem unbenutzten Wäscheplatz zwischen den Häusern, die sich rundherum fast identisch erhoben. Rechteckige Wohnblocks mit den immer gleichen rechteckigen Wohnungen und darüber ein einfarbig blauer Himmel. Obwohl es früher Nachmittag war, lag Stille über der Siedlung, als würde sie den sechziger Jahren nachtrauern, in denen sie ihre große Zeit gehabt hatte. Vor einem der Häuser hievte eine Frau mit Kopftuch den Buggy mit ihrem Kleinkind rückwärts die Stufen hoch. In diesem Augenblick rammte Fabian etwas von hinten.
»Verdammt!« Er hielt sich den Knöchel, schaute sich suchend um und dann nach unten.
»Entschuldigung.« Der Junge klemmte sich verlegen das Skateboard unter den Arm, mit dem er ihm in die Hacken gefahren war. »War keine Absicht.«
»Das will ich dir auch geraten haben.« Kopfschüttelnd schaute er sich den Kerl an. Er war vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt, klein, mit dunklen Haaren und aufgeschlagenen Knien. Er trug ein gestreiftes T-Shirt und kurze Jeans.
»Kiriaki, Eleni«, rief er und sagte etwas auf Griechisch. Zwei kleine Mädchen sprangen von der Schaukel und näherten sich langsam, als er sich zum Wohnblock links wandte. »Och nee, Athanassios!«, rief die Kleinere.
»Doch. Wir gehen rein, Hausaufgaben machen.«
»Warte mal!«, sagte Fritz Keller und bückte sich auf Augenhöhe.
Der Junge drehte sich um und blies sein Kaugummi zu einer Blase auf, die platzte und auf Mund und Nase kleben blieb. »Ja?« Er pulte die
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