Blutiger Regen: Leonie Hausmann ermittelt im Schwäbischen (German Edition)
jetzt der Chefredakteurin zu. »Hast du es ihr gesagt, oder nicht?«, fragte er.
»Was denn?«, fragte Leonie.
Sabine Marian schaute auf ihre Füße. »Nein«, sagte sie dann leise. »Aber sie ist auch nur für den Kulturbereich zuständig. Es betrifft sie also gar nicht.«
»Sie muss es trotzdem wissen. Schließlich hat dich Sarah wegen genau dieser Sache im Stich gelassen.«
»Welche Sache?« Leonies Herz begann zu klopfen. Alles war ein bisschen zu schön gewesen und zu glatt gegangen. Jetzt kam das dicke Ende hinterher.
Die Redakteurin fasste einen Entschluss. »Kommen Sie! Ich lasse mir nicht nachsagen, dass ich meiner neuen Mitarbeiterin die Katze im Sack verkaufe.« Eberhard trat aus der Küche, eine Kaffeetasse in der Hand.
Sie traten vor die Etagentür und stiegen die Treppe bis zum nächsten Absatz hinunter. Als sie schweigend stehen blieben, schlugen die ersten Tropfen an das Treppenhausfenster. Im Westen hallte ein weiterer Donnerschlag über die Stadt.
»Schauen Sie sich die Wand an!«, forderte sie Marian auf.
»Da ist nichts«, sagte Leonie.
»Doch. Sie müssen genauer hinsehen.«
Leonie strengte sich an und erkannte auf der geweißten Mauer über der Holzverkleidung die hellen Umrisse von Buchstaben, ein Graffiti, an dem sich jemand beim Entfernen die Finger wundgeputzt hatte.
»Was heißt das?«
»Stoppit«, sagte Marian. »Es ist fast ganz weggegangen. Wir wollten die Wand eigentlich ganz überstreichen, sind aber noch nicht dazu gekommen.«
Eine Drohung also. »Wer war das?«, wisperte sie.
»Kommen Sie mit runter!«, lud Marian statt einer Antwort ein. Leonie folgte der Redakteurin bis ins Erdgeschoss.
»Hier«, sagte sie und drückte die Eingangstür auf. »Sie fällt nicht mehr richtig ins Schloss.« Der Regen tropfte in den Hinterhof, klopfte auf die Mülltonnen und sammelte sich zwischen dem Unkraut.
»Das alles ist vor einer Woche passiert, nachts, als zum Glück niemand hier war, denn im Haus gibt es nur Büros und Gewerbebetriebe. Jemand ist gekommen, hat die Tür aufgetreten und uns einen Eimer mit Zement in den Eingang geschüttet. Und als alles ausgehärtet war, hat er die Tür darübergezogen und Türblatt und Zarge verbogen. Der arme Herr Maulschön hat’s am nächsten Morgen als Erster bemerkt, als er die Tür nur mit Gewalt aufstoßen konnte.«
Leonie starrte auf den Boden. Tatsächlich. Auch hier hatte jemand hart gearbeitet und den Zement mühsam Zentimeter für Zentimeter vom Mosaikboden gekratzt, aber das verschlungene Lilienmuster war nicht mehr zu erkennen. »Jugendstil«, sagte Leonie. »Schade drum.«
Die Redakteurin wandte sich Leonie zu und duzte sie automatisch. »Du musst wissen, Leonie, dass flüssiger Zement eine typische Drohung der Mafia ist. Sie haben so oft Leute einbetoniert, dass es reicht, wenn sie irgendwo einen Betonmischer vorfahren oder einen Kübel ausgießen. Die Leute sind gewarnt.«
Leonie schluckte. Ihr Mund war plötzlich sehr trocken. »Das heißt dann wohl, dass euer Leben bedroht ist.«
»Meins.« Sabine Marian lächelte sie traurig an. Um ihre Nase und ihren Mund lag ein kalkweißes Dreieck, und Leonie dachte plötzlich an die beiden Kinder der Redakteurin. »Ich recherchiere über die ’Ndrangheta. Das Stoppit und der Zement richten sich an mich persönlich. Und sie zeigen, dass ich auf der richtigen Spur bin. Ich habe jemanden aufgeschreckt.«
30.
In Esslingen fielen nur vereinzelte dicke Tropfen, und der Donner war nichts als das unentschlossene Grollen eines Drachen, der die Pranken streckte. Sebastian saß mit Flavia und Leander auf der Bank neben der Tischtennisplatte im Klinikgarten, klappte seufzend seinen Block zu und steckte ihn ins Netz des Buggys. Von den Platanen fing es an zu tropfen. »Da«, sagte Leander, zeigte auf den Regen und lachte.
Die Nachmittage im Klinikgarten hatten sich als höchst lukrativ herausgestellt, denn Frau Deringer machte für jeden Besuch von Max einen Zwanzigeuroschein locker. Jetzt unternahmen sie gerade einen Spaziergang bis zum hundert Meter entfernten Tor. Seine Begegnungen mit Flavia hatten ihn nachdenklich gemacht. Magersucht, das war kein Spaß, sondern eine echte psychische Krankheit. Er wollte da nicht mit hineingezogen werden, aber trotzdem, irgendwas an ihr faszinierte ihn, und er begann, ihr auf Facebook zu schreiben. Komischerweise war die Schüchternheit, die ihn im Umgang mit anderen Mädchen lähmte, bei ihr wie weggeblasen. Heute sah sie in ihrem langärmligen, roten
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