Blutiger Spessart
wühlen.
Kerner wusste aus Erfahrung, dass man jetzt nicht lange fackeln durfte. Die Chance würde nicht lange bestehen bleiben. Er tauschte langsam, um kein Geräusch zu erzeugen, das Fernglas gegen das Gewehr. Nachdem er die Waffe zur Stabilisierung auf der auf der Kanzelbrüstung ausgelegten Decke aufgestützt hatte, brachte er den Schaft an seiner Schulter in Anschlag und suchte das Ziel durch das Zielfernrohr. Da war sie! Ein dunkler Schatten, ohne scharfe Konturen. Deutlich konnte er einen Laut hören, der wie Grunzen klang. Nun folgte ein zigfach praktizierter Ablauf: einatmen, dann ausatmen bis zu dem Punkt, an dem man ganz ruhig wurde. Das Zielkreuz glitt langsam an die Stelle, wo hinter dem Schulterblatt das Herz schlug. Der Zeigefinger verstärkte den Druck auf den Abzug der Waffe. Sekundenbruchteile später brach der Schuss. Das Gewehr bäumte sich kurz auf, der Knall verhallte. Vom Mündungsfeuer leicht geblendet, setzte Kerner die Waffe langsam ab, sicherte sie und hob das Fernglas an die Augen. Er musste sehr genau hinsehen, ehe er den dunklen Fleck in der Wiese erkennen konnte. So wie es aussah, hatte er tödlich getroffen, und das Schwein war im Feuer zusammengebrochen.
Die Anspannung ließ nach. Automatisch sah er auf seine Armbanduhr. Erst kurz nach Mitternacht. Sehr gut. Er hatte mit einem längeren Ansitz gerechnet.
Fast schon beschwingt, packte er seine Utensilien zusammen, entlud sein Gewehr und stieg vom Hochsitz. Er warf sich die Waffe mit dem Riemen über den Rücken, so dass sie ihn beim Gehen nicht störte. Mit einem Handgriff überzeugte er sich davon, dass der geladene Revolver griffbereit im Gürtelholster steckte. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, an beschossene Wildschweine, selbst wenn sie regungslos am Boden lagen, nur mit gezogener Kurzwaffe heranzutreten. Es war schon mehr als einmal passiert, dass vermeintlich tote Schwarzkittel beim Anblick des Jägers plötzlich wieder zum Leben erwachten und angriffen. Bei diesem wehrhaften Wild eine höchst gefährliche Situation. Ein unhandliches Gewehr war da auf kurze Entfernungen eher hinderlich.
Die Taschenlampe in der Linken, den Revolver in der rechten Hand, näherte er sich vorsichtig der Stelle, wo er die erlegte Wildsau vermutete.
Der Anblick, der ihn erwartete, war so schrecklich, dass sein Verstand sich weigerte, es zu begreifen. Oberstaatsanwalt Kerner stand wie gelähmt und blickte in das schmerzverzerrte Gesicht eines Menschen, der sich nicht mehr rührte und ihn mit weit aufgerissenen, gebrochenen Augen anklagend anstarrte.
Wie in Zeitlupe sank Kerner vor dem blutüberströmten Menschen auf die Knie.
»Mein Gott!«, flüsterte er wieder und wieder. »Das kann doch nicht sein! Ich habe das Schwein doch deutlich gesehen!«
Für Minuten wirkte die Szene wie das Standbild eines drittklassigen Gruselschockers.
Langsam, ganz langsam gewann der analytische Verstand des Staatsanwalts die Oberhand über den lähmenden Schock. Makabererweise war der Grund dafür eine Art kalter Nässe, die sich durch das Knie seiner Jagdhose bemerkbar machte. Er leuchtete nach unten und bemerkte, dass er in einer Blutlache kniete, die durch das Gras verborgen war. Mit einem Sprung richtete er sich hastig wieder auf und starrte auf das Blut, das sich vom dunkelgrünen Stoff fast schwarz abhob. Langsam steckte er die Faustfeuerwaffe ins Holster zurück. Sein erster obskurer Gedanken war, dass diese Hose jetzt ein Beweisstück war. Dieser rationale Gedanke war es, der die Krallen der Panik zurückdrängte.
Als zuständiger Staatsanwalt für Mord und Totschlag war Kerner an blutige Tatorte und Obduktionen von Leichen in allen Stadien des Verfalls gewohnt. Das hier aber war etwas völlig anderes. Der Anblick dessen, was eigentlich gar nicht sein konnte, wollte einfach nicht in sein Gehirn. Sein Verstand sagte ihm, dass der Mann tot war. Er weigerte sich aber anzuerkennen, dass er, Kerner, ihn erschossen hatte und damit ein Täter war.
Als Jäger kannte er die Auswirkung des Geschosses auf den Körper eines Wildtieres nur zu gut. Das Projektil war so aufgebaut, dass es die lebenswichtigen Organe des beschossenen Tieres massiv zerstörte. Es war seine Bestimmung, schnell zu töten, um dem Wild Leiden zu ersparen. Dazu gehörte auch, dass es einen Ausschuss und damit einen hohen Blutverlust erzeugte – neben einem Doppelschock, der beim Eindringen in den Körper und beim Verlassen auftrat. Auf einen menschlichen Körper war die Wirkung
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