Blutiger Spessart
natürlich ebenso verheerend.
Vorsichtig, als könne der auf dem Bauch liegende Mann plötzlich aufspringen, näherte sich Kerner. Nach mehrmaligem Ansatz überwand er sich und tastete nach dem Handgelenk. Es war eigentlich eine völlig sinnlose Handlung, denn der Mann war definitiv tot. Kein Mensch konnte eine solche Verletzung überstehen.
Ohne zu überlegen, drehte Kerner, gegen alle Regeln des Verhaltens an einem Tatort, die Leiche auf den Rücken. An der Stelle des Ausschusses, dort wo das Projektil den Brustkorb wieder verlassen hatte, befand sich ein dunkles Loch von der Größe einer Männerfaust. Beim Umdrehen schwappte ein heftiger Schwall Blut heraus, der sich im Brustkorb angesammelt hatte, und tränkte die sowieso schon total mit Blut vollgesogene Kleidung zusätzlich. Da war nichts mehr zu retten.
Neben dem Körper des Mannes registrierte Kerner jetzt eine Lache von Erbrochenem, die bisher von dem Liegenden verdeckt worden war. Jetzt roch er auch die heftige Alkoholausdünstung, die von dem Toten und der Lache ausging.
Es kostete Kerner einige Überwindung, den Strahl der Taschenlampe auf das Gesicht des Toten zu richten. Die Augen weit aufgerissen, gaben die Züge des Mannes Zeugnis von dem Schmerz, den er in den letzten Sekunden seines Lebens empfunden haben mochte. Je länger Kerner die Miene des Toten betrachtete, umso mehr hatte er den Eindruck, den Menschen schon einmal gesehen zu haben. Der Mann war noch jung, sicher nicht älter als 30. Auch wenn der Tod die Menschen meist älter aussehen ließ. Sein Haar war schwarz, sein Teint eher südländisch, die Augen dunkel. Kerner versuchte, sich zu erinnern. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er hatte das Gesicht auf mehreren Ermittlungsfotos gesehen, die ihm die Mitarbeiter der Sonderkommission
Spessartblues
gezeigt hatten. Auf diesen Überwachungsbildern waren häufig Francesco Emolino, Michelangelo Trospanini und Renato Mallepieri zu sehen gewesen. Auf einigen anderen Bildern war aber noch ein Gesicht abgelichtet: Ricardo Emolino, der Sohn des Paten. Es gab trotz der entstellenden Fratze, die der Todesschmerz in das Gesicht des Mannes gemeißelt hatte, keinen Zweifel: Das hier war eindeutig Ricardo Emolino! Der Schreck, der Kerner durch alle Knochen fuhr, vertrieb die Lethargie, die ihn noch bis vor wenigen Augenblicken gelähmt hatte.
Er löschte die Taschenlampe und starrte, neben der Leiche stehend, in die Nacht. Die Erkenntnis, dass er sich zumindest einer fahrlässigen Tötung, wenn nicht eines Totschlags schuldig gemacht hatte, traf ihn mit voller Wucht und legte sich tonnenschwer auf seine Schultern. Eine Last, die von Minute zu Minute schwerer wurde. Er, Oberstaatsanwalt Simon Kerner, mit einem der besten Staatsexamen im Land, einer der angesehensten Juristen im Bereich der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg, geschätzt im Bayerischen Justizministerium, schon lange mit dem Marschallstab für höhere Weihen im Tornister, hatte einen Menschen erschossen. Noch dazu einen, gegen dessen Vater er ein Ermittlungsverfahren leitete.
Die zwangsläufigen, persönlichen Folgen seines Handelns standen glasklar vor Kerners geistigem Auge. Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, Suspendierung vom Dienst. Wenn er Glück hatte, würde ihm vielleicht die Untersuchungshaft erspart bleiben. Die Kollegen und Freunde würden sich von ihm abwenden. Der berufliche Absturz würde so gewaltig sein, dass er ihn vermutlich weder psychisch noch physisch überleben würde. Für diesen Tod gab es keine Entschuldigung. Wie jeder andere Jäger war er allein für seinen Schuss verantwortlich. Im günstigsten Fall würde er wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Vielleicht würde man ihm sogar persönliche Motive unterstellen, dass er aus Hass gegen Emolino geschossen hatte. Rache gegen den Paten, weil es ihm nicht gelungen war, ihn hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Kerner wusste mit nüchterner Klarheit, dass der Alte ausrasten würde, sobald er erfuhr, wie sein Sohn ums Leben gekommen war und wer daran Schuld hatte. Er würde Amok laufen und, auch das war Kerner klar, mit allen Mitteln versuchen, ihn zu töten. Bisher hatte er einen derartigen Angriff nicht gewagt, aber jetzt, wenn es nicht mehr allein um einen Angriff gegen den ermittelnden Oberstaatsanwalt ging, sondern gegen den Mörder seines Sohnes, würden bei Emolino alle Schranken brechen.
Simon Kerner war sich bewusst, dass er hier und jetzt, in der Nacht neben diesem Maisfeld, eine
Weitere Kostenlose Bücher