Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
betrauern.
Mogda schlitterte mehr, als dass er ging. Seine Füße hoben kaum vom Boden ab, und mit den Armen ruderte er, um sein Gleichgewicht zu halten. Am Achterdeck angekommen, blieb er vor dem Ruderdeck stehen. Beim Betrachten der dick vereisten Stufen, die hinauf zu Londor führten, entschied er sich, sein Gespräch von hier unten zu führen. Auf Augenhöhe mit dem Kapitän war er ohnehin schon.
»Wie weit ist es noch bis zur Insel Argaht?«, wollte Mogda wissen.
»Hundert Meilen«, nuschelte Londor.
Der Kapitän hatte seinen Schal wieder bis über die Nase gezogen und seine Kapuze bis hinunter auf die Augenbrauen, sodass nur ein schmaler Schlitz in Höhe der Augen frei blieb. Auch sonst schien er alles angezogen zu haben, was in seiner Kajüte zu finden gewesen war: ein doppeltes Paar Hosen, mehrere Hemden, ein altes Lederwams und darüber ein verschlissenes Bärenfell. Mit all den Schichten, die seinen Körper umgaben, kam er fast einem Oger gleich, nur an Größe fehlte es ihm.
»Wart Ihr schon einmal in den Nordlanden?«, wollte Mogda wissen. »Die Menschen an den Küsten erzählen sich, das Land sei bevölkert von wilden Barbaren, die jedes andere Volk versklaven oder töten.«
Londor zog sich den Schal vom Gesicht und legte die Arme über das Steuerrad. Er blies seinen Atem aus und schaute zu, wie der weiße Nebel vor seinem Gesicht wallte.
»Vor zwanzig Jahren machte sich eine ganze Flotte von Schiffen aus Nelbor auf in die Nordlande. Sechzig Fregatten mit je dreihundert Kriegern im Dienste von König Wigold verließen die Häfen von Sandleg, Trumburg und Lagustenstadt. Achtzehntausend gut ausgebildete und voll ausgerüstete Soldaten des Königs machten sich auf, um die Insel Argaht und das Nordland dahinter von den Barbaren zu befreien.
Nur etwa die Hälfte der Schiffe schafften es überhaupt an die Küste. Stürme, Eisberge, Untiefen und die felsige Küste der Insel forderten ihren Tribut und somit das Leben von fast sechstausend Mann. An der ganzen Küste des Landes findet sich nicht ein einziger Hafen. Die Barbaren fahren mit kleinen Briggs oder Ruderbooten, die sie leicht vom Strand oder aus überfluteten Grotten heraussteuern können. Die Boote sind wendig und schnell, taugen wenig für ein Seegefecht, bieten aber genug Platz für zwei Dutzend Krieger. Die Barbaren benutzen sie für die Jagd auf Robben und Wale, doch damals warfen sie Harpunen und Speere auf die Männer, die im Wasser trieben.
Als der Rest der Flotte anlandete und erschöpft Schutz zwischen den Felsen am Strand suchte, fielen an die fünfhundert Barbaren über sie her. Fünfhundert gegen zwölftausend. Laut den Erzählungen soll es ein furchtbares Gemetzel gewesen sein. Natürlich haben die Männer des Königs gesiegt, aber es kostete weitere dreitausend Mann das Leben. Dreitausend ausgebildete Krieger gegen das Leben von fünfhundert in Felle gekleidete und mit Spießen bewaffnete Wilden.
Die Kämpfe dauerten noch Wochen an, aber über die Insel Argaht kamen die Nelborianer nie hinaus. Nach ungefähr einem halben Jahr kamen vier Schiffe mit je hundertfünfzig Mann Besatzung zurück. Mehr ist von König Wigolds Heer nicht übrig geblieben. Keiner von denen, die zurückkamen, hat je davon gesprochen, was wirklich auf der Insel passiert ist.«
Londor erzählte gern und viele Geschichten. Man wusste nie genau, was davon der Wahrheit entsprach und was bei Tabakqualm, deftigem Essen und jeder Menge Alkohol entstanden war. Mogda erinnerte sich an Wulbart, den bärenstarken Krieger, den Rator und sein Trupp aus Sandleg befreit hatten, nachdem die Elfen über die Stadt hergefallen waren. Mogda hatte ihn bei der Belagerung von Turmstein kennen gelernt. Der meist grimmig dreinschauende Mann hatte ihm erzählt, dass er im Norden gekämpft hatte und dass er einer der wenigen war, die mit dem Leben davongekommen waren. Nur ein einziges Mal kam das Gespräch auf die Barbaren im Norden. Wulbart hatte zu ihm aufgesehen und gesagt: »Ich bin ein Barbar, die Männer aus dem Norden haben nichts mit mir gemeinsam. Sie haben den Weg verlassen. Ich nenne sie Berserker.«
Damals hatte Mogda nicht verstanden, was Wulbart damit sagen wollte. Er wusste nicht, was ein Berserker war, aber es klang abfällig. Erst jetzt, nachdem er Cindiel in Sandleg wiedergetroffen und ihr geschildert hatte, wie merkwürdig sich die fremden Krieger verhalten hatten, hatte er das Wort wiedergehört. Cindiel erklärte ihm, dass Berserker Krieger waren, die sich mit
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