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Blutiges Echo (German Edition)

Blutiges Echo (German Edition)

Titel: Blutiges Echo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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Tisch gegessen wurde. Man aß immer am Tisch, und man unterhielt sich.
    Das waren keine tiefschürfenden Unterhaltungen. Meistens hörte Daddy zu, wie Harry und Mom miteinander sprachen, und Harry redete gerne, wenn es um nichts Bedeutungsvolles ging. Über alltägliches, schnell wieder vergessenes Zeug.
    Aber es gab Dinge, über die er nicht reden konnte.
    Comics. Bücher, und ihre Autoren. Keiner seiner Eltern las solche Sachen. Genau genommen schämte sein Vater sich dafür, dass er kaum lesen konnte. Bis zur elften Klasse hatte er die Schule besucht, dann war er abgegangen. So weit war er gekommen, ohne richtig lesen zu lernen. Zwar konnte er Schilder und ein paar einfache Wörter entziffern. Es reichte, um zurechtzukommen, vor allem, wenn man als Mechaniker arbeitete, sich mit seiner Arbeit auskannte und mit seinem Namen unterschreiben konnte. Es fiel also überhaupt nicht auf. Aber Harry wusste, dass es seinem Vater peinlich war, nicht gut lesen zu können. In allen anderen Bereichen war er so selbstbewusst wie Superman, aber das mit dem Lesen, das machte ihm zu schaffen.
    Und seine Mom … na ja, sie war klug und freute sich über seine Liebe zu Büchern. Aber mit ihr über einen der Science-Fiction-Romane zu reden, die er las, wäre genauso spaßig gewesen, wie mit einer Ziege über Grillsoße zu diskutieren. Sie konnte einfach nichts damit anfangen. Dasselbe galt für die paar Videospiele, die er spielte. Sie sah überhaupt keinen Sinn darin.
    Stattdessen schauten seine Eltern fern. Größtenteils Sitcoms und Nachrichten. Und sie hörten Countrymusik von alten Vinylplatten. Selten gingen sie mal aus. Wenn, dann höchstens, um sich am Drive-in einen Hotdog oder einen Hamburger durchs Fenster reichen zu lassen. Hin und wieder besuchten sie Verwandte. Freunde hatten sie nicht wirklich. Jedenfalls keine richtigen Freunde, so wie Joey und Kayla.
    Na ja, zumindest wie Kayla. Joey war eine Nummer für sich.
    Aber Kayla war in Ordnung.
    Er dachte ständig an sie.
    Doch seine Eltern hatten keine richtigen Freunde, soweit er wusste. Sie hatten nicht mal einen guten Freund von früher, der weggezogen war. Irgendwen, an den sie zurückdenken konnten.
    Sie hatten einander.
    Und ihn.
    Daddy hatte seine Arbeit, und Mom hatte Harry, den sie zu Knieschonern und Helmen zu überreden versuchte.
    Das war eigentlich ihre ganze Welt.
    Aber er liebte seine Eltern. Von ganzem Herzen. Und sie liebten ihn ebenso sehr.
    Sein Dad war ein ziemlich harter Knochen, doch wenn es darauf ankam, konnte er ganz sanft sein. Er war Harrys großer Held. Er sagte, was er meinte, und meinte, was er sagte. Seinen Worten ließ er stets Taten folgen. Es gab nichts, wovor er Angst hatte, so viel stand fest.
    Harry wünschte, er wäre wie sein Dad.
    Er hatte nämlich die ganze Zeit Angst, und hier saß er nun wehleidig in seinem Zimmer über den Resten seines Abendessens. Er stand auf, stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Draußen war es dunkel.
    Er öffnete das Fenster und atmete tief ein. Die Sommerluft war dick wie der Qualm alter Autoreifen – und genauso schwer zu atmen.
    Leise schloss er seine Zimmertür. Sie hielt die Geräusche des Fernsehers und das Licht aus dem Flur ab und ließ ihn im Dunkeln zurück.
    Er knipste die Lampe an, holte die Zeitschrift unter dem Bett hervor, die mit den nackten Frauen drin, doch sie brachte ihn nicht in Stimmung. Er schaltete das Licht wieder aus, schob das Heft zurück und legte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen aufs Bett.
    Er dachte wieder über seinen Vater nach, wie der solche Dinge anpackte. Er würde nicht einfach nur tatenlos hier herumliegen. Er würde losziehen und die Wahrheit herausfinden.
    Wie Harry so über all das sinnierte, schlief er ein.
    Als er erwachte, war es immer noch dunkel im Zimmer. Er stand auf, wankte zur Wand und schaltete das Licht ein. Dann schaute er auf den mechanischen Wecker auf seinem Nachttisch. Fünf Uhr morgens.
    Also gut, dachte er. Ich muss es tun. Ein bisschen Mut beweisen, so wie mein alter Herr.
    Harry zog sich an, knipste das Licht aus, schob das Fenster hoch und stahl sich genauso davon wie in jener Nacht, als er mit Joey und Kayla zum Honkytonk gelaufen war.
    Doch jetzt war er allein, ganz auf sich gestellt, und der Himmel war so weit und die Welt so groß und die Schatten zwischen den alten Autos und den Bäumen so dunkel.
    Leise schlich er am Schlafzimmerfenster seiner Eltern vorbei und bemühte sich, nicht auf knackende Äste zu treten.

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