Blutiges Echo (German Edition)
hob, sah er, dass die Nacht früh hereingebrochen war. So wirkte es jedenfalls. Es war eine Regenwolke, und sie füllte das Zimmer aus, bis es so schwarz war wie ein Stück Sachertorte.
Harry lehnte sich zurück und machte sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Die Dunkelheit war angenehm. Er schmeckte das Ozon in der Luft, konnte hören, wie der Wind zunahm, wie der Regen leicht aufs Dach trommelte und plötzlich stärker wurde, als wären die Tropfen aus Blei.
Er stand auf, zog den Vorhang zurück und schaute hinaus. Die Schatten wurden von einem schwachen Lichtschein durchbrochen, in dem riesige Hagelkörner sichtbar wurden. Ein Blitz durchzuckte die Finsternis, als würde ein kleines Kind ein Blatt Papier zerreißen.
Er dachte an sein Auto, während er dem Hagel lauschte. Eine Garage hatte er nicht; zu der Wohnung gehörte keine. Doch vielleicht schützten die großen Eichen links und rechts der Straße das Auto ein wenig. Auch wenn der Wagen im Grunde natürlich nichts Besonderes war, nichts, worauf man stolz sein müsste oder was auch nur annähernd flott aussah. Es war ein nichtssagendes braunes Auto, völlig belanglos.
Hoffentlich drückte der Hagel wenigstens nicht die Windschutzscheibe ein.
Erbarmungslos prasselte das Eis herunter und knallte auf das Dach, und ein paar Körner klirrten gegen die Fensterscheibe. Harry überlegte, ob in dem Geräusch der herabdonnernden Eisstückchen irgendein Grauen verborgen liegen konnte; ob in ihrem Aufprall auf dem Dach ein buntes, lautes, entsetzliches Ereignis lauerte und nur darauf wartete, befreit zu werden. Was passierte eigentlich, wenn ein Mann in einem See ertrank, um sich schlug, schrie und das Wasser aufspritzte, bevor er unterging; wenn dann später das Wasser verdunstete und zu Regen oder Hagel wurde – konnte es die Erinnerung daran mit sich nehmen?
Nein, das war zu absurd. Das Wasser hatte ja dann seinen Aggregatzustand geändert; so was konnte nicht passieren. Hoffte er.
Harry trat einen Schritt zurück, keine Sekunde zu früh. Ein Hagelkorn schlug knapp über der Fensterbank gegen die Scheibe, durchbrach sie, kullerte ins Zimmer, rollte über den Fußboden, versprühte Scherben, verlor Eissplitter. Zwischen seinen Füßen kam es zum Halt.
Er hob es auf. Es war kalt und fest. Fühlte sich wie ein kleiner Baseball an, den man morgens im taunassen Gras fand. Er nahm es mit ins Badezimmer und ließ es ins Waschbecken fallen, damit es schmolz. Bei dieser eisigen Berührung kam ihm der Gedanke an ein kaltes Bier. Er hatte ein paar in seinem kleinen Kühlschrank. Doch er entschied sich dagegen.
Eine Sache, die der Alte übers Trinken gesagt hatte, war bei ihm hängen geblieben. Wie war das noch mal? Irgendwas von wegen Marke Eigenbau.
Ja, genau das war’s. Tad hatte gesagt, bei ihm wäre alles Marke Eigenbau, auch seine Sauferei.
Und er hatte zu Harry gesagt, dass er gerade denselben Weg einschlug.
Harry riss eine Ecke von einem Pappkarton ab, holte Klebeband und klebte die Pappe über das Loch im Fenster. Vielleicht würde der Vermieter es reparieren.
Aus dem Bad holte er einen Besen, der dort gegen die Duschwand lehnte, fegte die Scherben auf ein Blatt Papier und warf es in den Mülleimer.
Dann schob er seinen Stuhl in die Mitte des Zimmers, setzte sich und lauschte dem Sommerhagel. Ungefähr eine Viertelstunde lang donnerte er unermüdlich gegen das Haus, dann ließ er nach. Schließlich glomm ein Scheibchen Licht in der Dunkelheit auf, glitt durch die Vorhänge und erhellte das Zimmer.
Harry rührte sich nicht.
Er saß da und hörte zu, und der letzte Rest des Hagels, der jetzt aus kleineren Körnern bestand, ging vorüber und wurde abgelöst von vereinzelten Regentropfen. Dann war auch das vorbei, und draußen wurde es heller, und er konnte seine Umgebung wieder deutlich erkennen.
Er blieb einfach auf dem Stuhl sitzen und horchte.
Nichts war mehr zu hören, nicht einmal Autos auf der Straße vor dem Haus.
Da war nur Ruhe und Sonnenschein, und er saß im warmen Licht und lauschte auf die leere Stille, solange sie währte.
Kapitel 16
Im Radio lief gerade »The Beast in Me« von Johnny Cash, als Harry zum College fuhr. Die Bestie steckt aber nicht in mir, dachte er. Sie steckt da draußen, und ich lasse sie von Zeit zu Zeit herein. Eine Bestie, die zu den anderen gehört. Da liegt der Hase im Pfeffer. Es ist nicht mal meine eigene Bestie.
Auf der Fahrt orientierte sich Harry an seinem Wissen von »schlimmen Stellen«. Im Auto
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