Blutiges Echo (German Edition)
Fall, dass ich nachgucken muss.«
Harry zog das Notizbuch aus seiner Gesäßtasche und warf es auf den Tisch. Tad griff danach, blätterte es durch und betrachtete die kleinen Kartenskizzen mit den Beschriftungen.
»Ganz schön detailliert«, bemerkte Tad.
»Ich trage Schuhe mit weichen Sohlen und Gummikappen. So aktiviere ich nichts, wenn ich gegen eine Steinmauer stoße, wo ein Auto verunglückt ist, oder fest auf eine Stelle trete, an der jemand bei einem Unfall aus dem Wagen geschleudert wurde. Überall können Erinnerungen gefangen sein. Du glaubst gar nicht, wie viele Vergewaltigungen auf dem Campus stattgefunden haben. Die Leuten melden es bloß nicht immer.«
»Also«, sagte Tad, »wenn jemand verletzt wird und irgendwas anfasst, dann stecken die Geräusche und der komplette Vorfall in dem Gegenstand, den er berührt hat?«
»Nein. Wenn eine Frau heftig gegen eine Jukebox gestoßen wird, wird das aufgezeichnet. Wenn ein Typ sich auf einem Klo umbringt und der Deckel zuknallt, während das Gewehr auslöst, wird das auch aufgezeichnet. Nicht nur das Geräusch oder das Ereignis. Auch die Gefühle. Manchmal empfange ich Echos der ursprünglichen Geräusche. Als würden sie noch einmal nachhallen. Und Bilder von früher… allerdings bin ich mir nicht so sicher, ob es Bilder sind. Das ist … als wären es Geister. Oder Seelen. Jetzt nicht so ein religiöser Quatsch, sondern irgendwie ein Teil von ihnen, der von damals, als sie gelebt haben, übrig geblieben ist. Ihre Empfindungen. Die spüre ich, und ich kann kaum was dagegen tun.«
»Ich würde dir ja gern glauben, aber …«
»Es ist echt erstaunlich, wie viel Gewalt es auf der Welt gibt. Manchmal kriege ich bloß einen kleinen Schreck, dann kommt ein Schubs, ein Geräusch und ein bunter Blitz, und dann ist es schon vorbei. Muss nicht immer was ganz Schlimmes sein. Aber die Gewalt ist überall, und ich kann eigentlich nirgendwo hingehen, ohne darüber zu stolpern.«
»Da sagst du was, Kleiner.«
»Die ganze Welt ist voll davon, randvoll. Und es bleibt ja nicht bei dem verborgenen Zeug aus der Vergangenheit. Zusätzlich muss ich noch mit dem fertigwerden, was alle anderen auch jeden Tag hören. Die ganze Wut, die ständige Grausamkeit. Zum Beispiel in Songtexten. Fuck dieses, scheiß auf jenes, töte diesen, mach jenen platt. Tod den Bullen, den Schwulen und den Frauen. Aber auch wenn keine Musik läuft, reicht es schon, wie die Leute miteinander reden. In den gottverdammten Talkshows, den Politiksendungen, ständig diese Streitereien. Es nimmt kein Ende. Und du willst wissen, warum ich trinke? Warum ich nicht damit aufhören kann?«
Als Harry verstummt war, sackte er auf dem Stuhl nach hinten und atmete tief durch. Er hatte sich ziemlich verausgabt.
Tad betrachtete ihn einen Moment lang, dann sagte er: »Junge, wenn diese Sache mit den Geräuschen stimmt, oder selbst wenn du es dir nur einbildest, und du kommst jemals aus diesem Kaff raus und in eine richtige Stadt, so wie Houston, dann wird dir dort die Rübe platzen.«
Kapitel 15
Auf dem Weg nach Hause fragte sich Harry, warum er Tad eigentlich von seinem Problem erzählt hatte. Inzwischen sprach er darüber nicht mehr, nicht seit Joey und die Ärzte ihn für verrückt hielten. Genau wie seine Mom, obwohl sie so etwas niemals sagen würde. Und jetzt hatte er es diesem Kerl erzählt.
Aber das war was anderes. Er kannte Tad so gut wie gar nicht, also spielte es keine Rolle, was der von ihm hielt. So hatte er das Ganze einmal rauslassen, sich richtig von der Seele reden können. Tad würde ihn einfach nur als Spinner abschreiben und sich wieder an seiner Flasche festhalten.
Zwei besoffene Spinner, jeder mit seinem eigenen Päckchen.
So in der Art.
Harry musste einen ganzen Tag totschlagen, und das tat er mit Lernen, soweit er sich konzentrieren konnte. Allerdings verbrachte er eine Menge Zeit damit, über Tad und dessen Familie nachzudenken, darüber, wie der Alte im Zustand völliger Trunkenheit diesen Rowdys hinter der Kneipe das Fell über die Ohren gezogen hatte, wie er ihr Geld eingesteckt hatte und sich nicht einmal daran erinnerte.
Harry nahm ihm sofort ab, dass er nichts mehr davon wusste. Dass er sie weniger ausrauben als ihnen vielmehr auf ironische Art einen Denkzettel hatte verpassen wollen. Den Arschlöchern eine anschauliche Lektion erteilen.
Er versuchte, sich auf sein Psychologiebuch zu konzentrieren, doch ein Schatten fiel auf ihn, und die Seite wurde dunkel. Als er den Kopf
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