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Blutiges Eis

Blutiges Eis

Titel: Blutiges Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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die Nachrichten. Der neue Bürgermeister warb für den Winterkarneval, obwohl er erst in einem Monat war und die Warmfront den gesamten Schnee weggeschmolzen hatte; Geoff Mantis prangerte den Vorschlag der Liberalen an, die Kapitalgewinnsteuer zu erhöhen; und es gab ein Porträt des neuen Chefs der Parti Québécois in Verbindung mit der nicht allzu subtilen Analyse des »Quebec-Problems«. Solange Delorme denken konnte, war Quebec in ihrem Land das Thema schlechthin gewesen. Die Zeitungen und Experten waren nie müde geworden, diese prekäre Wetterlage zu diskutieren, die sich hartnäckig hielt – das Sturmtief am Horizont der französisch-englischen Beziehungen.
    »Sie fahren nicht in die Stadt rein«, hatte Musgrave ihr gesagt. »Sie müssen schon auf der LaFramboise rechts abbiegen. Direkt hinter der Chevy-Filiale.«
    »Wo bleibt nur diese Chevy-Filiale?«, fragte sich Delorme. Sie erschien eine halbe Meile weiter auf der rechten Seite.
    Delorme bog ein und kam an einem Holzlager vorbei, dann an einem stillgelegten Lagerhaus und einem Hundezwinger – ein prosaischer, hässlicher Anblick, durch den Regen nur noch trostloser. Zur Linken tauchte ein Reifendienst auf, und dahinter zeigte ein Pfeil auf das zerbeulte Schild eines Sandy-Point-Campingplatzes. Delorme blinzelte in den Regen und versuchte, zwischen den Kiefern die Cottages auszumachen.
    Ein paar Minuten später hatte sie, wie es aussah, das Ende der Straße erreicht und hielt an. Wenige Meter entfernt sah sie einen Briefkasten mit dem Namen Simmons . Sie ließ den Wagen langsam die Einfahrt hinunterrollen. Unterhalb des Hangs stand ein Jeep Wrangler; Delorme notierte sich das Nummernschild. Der Jeep parkte neben einem Cottage wieaus Hänsel und Gretel, ein viktorianisches Lebkuchenhaus, das vorwiegend mit mauvefarbenen Vinylschindeln verkleidet war. Ein steiles Dach glänzte nass, und die oberen Fensterhälften waren aus Buntglas. Aus dem Schornstein stiegen malerische Rauchkringel auf.
    Delorme trat auf eine lilafarbene, gedrechselte Holzveranda. Musgrave hatte das Simmons-Cottage als Puppenhaus bezeichnet, und Musgrave lag absolut richtig. Auf dem Treppenabsatz stand ein gusseiserner Schuhabstreifer, und die Haustür zierte ein Messingklopfer in Form eines Löwenkopfs. Die Tür ging auf, und ein junger Mann in T-Shirt und Jeans musterte sie von oben bis unten. Muskulös, wie Ms. Gale gesagt hatte, ein Mann, der viel Zeit in der Turnhalle verbrachte.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Sein Haar war länger als auf dem Foto in Dr. Cates’ Haus; es hing ihm in weizenblonden Fransen in die Stirn. Und ohne die Mountie-Uniform sah er viel kleiner aus. Doch er wirkte trotz der Freizeitkleidung gepflegt und zurückhaltend: Die Jeans und das T-Shirt waren gebügelt.
    »Craig Simmons?« Delorme hielt ihre Marke hoch. »Ich bin Detective Lise Delorme, vom Kriminalkommissariat Algonquin Bay.«
    »Sie sind ein bisschen weit außerhalb Ihres Zuständigkeitsbereichs, oder?«
    »Was dagegen, dass ich kurz reinkomme? Es ist ziemlich nasskalt hier draußen.«
    Simmons hielt ihr die Tür auf.
    Nord-Ontario hat zwei Kategorien von Cottage-Besitzern. Die eine benutzt das Cottage als eine Art Dachboden und stopft es mit Ausrangiertem voll – ramponierte Sofas, von Katzen zerfetzte Sessel, Videorekorder, die schon bessere Tage gesehen haben, alles, was man zu Hause nicht mehr haben will. Die andere Kategorie betrachtet das Cottage als Zweitwohnsitz und tut alles, um es ansehnlich, komfortabel undeinladend zu gestalten, zuweilen mit größerem finanziellen Aufwand als bei ihrem Hauptwohnsitz.
    Diese zwei Kategorien ergänzte Delorme nunmehr durch eine dritte: Bewohner im Reich der Phantasie. Das Simmons-Häuschen diente der Verewigung einer viktorianischen Ära, die es so nie gegeben hatte. Sie blickte ihr aus den Messingkerzenhaltern, den Vitrinen aus geschliffenem Glas, den Spitzengardinen entgegen. Sie zwinkerte ihr aus den perlenbesetzten Lampenschirmen, der silbernen Zuckerdose und der Standuhr zu, die gut eine halbe Stunde nachging. Über einem Esstisch aus massiver Eiche brütete ein altersfleckiges Foto von Queen Victoria in einem abgeschrägten Rahmen.
    »Das Cottage gehört meiner Mutter«, sagte Simmons und zeigte auf den Firlefanz. »Und eines Tages, das schwöre ich, sieht es hier ganz anders aus. Setzen Sie sich.« Er wies auf die Esstischstühle, die allesamt üppig mit Volants besetzt waren.
    Delorme beschloss, es sich gar nicht erst gemütlich zu machen, sondern

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