Blutiges Eis
würde ich Sie gerne fragen, wie viel Sie von der Oktoberkrise behalten haben.«
»Oktober 1970«, sagte Cardinal. »Ein paar Leute wurden von der FLQ entführt. Raoul Duquette, ein Minister des Provinzkabinetts, wurde getötet. Das war’s dann auch schon.«
»Ich war noch ein kleines Kind«, sagte Delorme. »Ich kann mich an gar nichts erinnern.«
Sergeant Ducharme hob einen pädagogischen Zeigefinger. »Dann ist es ja höchste Zeit für einen Auffrischungskurs.«
Cardinal holte seinen Kugelschreiber heraus.
»Wir befinden uns in Quebec, La Belle Province, in den späten Sechzigern. Alles streikt: Die Taxifahrer, die Studenten, selbst die Cops gehen auf die Straße. Ein paar der Demonstranten geraten außer Kontrolle, es gibt eingeschlagene Schädel, einen oder zwei Tote. Aus dieser Anarchie geht eine Gruppe hervor, die als Front de Libération du Québec bekannt wird, kurz FLQ. Die FLQ fängt nun an, in Montreal und Quebec City Bomben in Briefkästen zu werfen. Was wollen sie? Sie wollen, dass sich Quebec von Kanada trennt und ein eigener Staat wird.
Andere Organisationen wollen dasselbe. So zum Beispiel die Parti Québécois. Der Unterschied besteht darin, dass die PQ das durch einen demokratischen Prozess erreichen will. Die FLQ schert sich einen Dreck um den demokratischen Prozess. Sie wollen ihr eigenes Land hier und jetzt, und sie wollen es mit aller Gewalt.
Also gehen Bomben hoch. Meistens sind sie klein, und meistens wird niemand verletzt. Aber in der ganzen Stadt verschwinden Dynamitvorräte von den Baustellen. Ein großer Teil des Dynamits stammt überhaupt vom Bau der Expo 67, die als Hundertjahrfeier für die kanadische Nation gedacht war. Einige fanden, dass die FLQ damit ihren Sinn für Humor an den Tag legte. Was es auf jeden Fall zeigte, war, dass einige Mitglieder der FLQ im Bauwesen arbeiteten.
Jedenfalls fangen sie also an, Bomben in Briefkästen zu stecken. Einige in Quebec City, einige in Ottawa, doch meistensbevorzugen sie die Briefkästen der hübschen Straßen von Westmount, wo die wohlhabenderen Anglokanadier in Montreal wohnen und wo, nebenbei gesagt, auch wir, RCMP, Abteilung C, unseren Sitz haben.« Er winkte mit der Hand Richtung Fenster, wo vereinzelte Schneeflocken über den grünen Hang des Mount Royal wehten.
»Doch dann gibt es auf einmal Tote und Verkrüppelte. Einem unserer Männer im Bombendezernat hat es beide Hände abgerissen, als er versuchte, eine Bombe zu entschärfen. Und ein Wachmann starb in einem Gebäude, von dem die FLQ angenommen hatte, es stünde leer. Champions der Arbeiterklasse nennen sie sich, aber ich glaube kaum, dass die Witwe des Wachmanns dem zugestimmt hätte. Jedenfalls setzen wir jetzt alles daran, die Mistkerle zu schnappen.
Fünfter Oktober 1970. Wohnsitz des britischen Handelsattachés Stuart Hawthorne. Es klingelt, das Hausmädchen macht auf. Vor der Tür steht ein Mann mit einem länglichen Paket. »Geburtstagsgeschenk für Mr. Hawthorne«, sagt er. Das Mädchen tritt zur Seite, um ihn hereinzulassen, und plötzlich stehen vier Männer in der Diele, die Schachtel ist offen, und das Mädchen blickt in die Mündung eines Maschinengewehrs. Sie zerren Mr. Hawthorne aus dem Badezimmer, wo er sich gerade rasiert, und kaum fünf Minuten später findet er sich auf dem Rücksitz eines Autos wieder.
Kommuniqués werden verschickt, Forderungen gestellt. Die so genannte Befreiungszelle der FLQ hat eine Menge Forderungen, doch die größten sind zum einen die Freilassung von dreiundzwanzig so genannten politischen Häftlingen, zum anderen 500 000 Dollar, die sie als freiwillige Steuer deklarieren, und schließlich freies Geleit nach Kuba sowohl für die Kidnapper als auch für die befreiten Häftlinge. Falls diese Forderungen nicht erfüllt werden, wird Mr. Hawthorne exekutiert.«
»Wieso haben sie jemanden aus einem anderen Land gekidnappt?«,fragte Cardinal. »Wieso haben sie sich nicht jemanden von hier ausgeguckt?«
»Genau das haben sich auch andere Mitglieder der FLQ gefragt. Die Bundesregierung ist noch dabei, ihren Krisenstab aufzustellen, als eine weitere Zelle zuschlägt, die Chenier-Zelle. Diesmal kidnappen sie Raoul Duquette, Bildungsminister des Provinzkabinetts.
Die Regierung spielt auf Zeit. Ich war damals beim Geheimdienst, und wir richteten aus Mounties, der Quebecer Provinzpolizei und der örtlichen Polizei von Montreal ein gemeinsames Anti-Terror-Kommando ein – das Combined Anti-Terrorist Squad oder auch CAT-Team genannt.
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