Blutiges Schweigen
und wusste, in den vier Wänden ihres Unterschlupfs versteckt. Ihre Eltern hatten sie als vermisst gemeldet und warteten nun schon seit einem knappen Monat darauf, dass das Telefon klingelte. Auf die Nachricht, dass jemand sie getroffen oder erwähnt hatte. Auf irgendeine Information, und sei sie auch noch so unbedeutend. Doch sie würden in einem Monat immer noch warten. Und auch in einem Jahr. Denn die Polizei würde nicht anrufen. Sie würde sämtliche Erinnerungen aus Sona herauspressen, um Dr. Glas das Handwerk zu legen – und den Rest unter den Teppich kehren. Bei dem bloßen Gedanken daran wurde mir übel.
»Ihre Familie weiß nicht, dass sie wieder da ist?«
Healy schüttelte den Kopf. »Nein. Nur die Polizei.«
»Aber sie hat sich doch nicht von allein in Polizeigewahrsam gezaubert. Jemand muss sie nach ihrer Flucht doch gesehen haben. Sicher gibt es Zeugen. Wo sind sie?«
Er warf mir einen Seitenblick zu. »Haben Sie die Nachrichten verfolgt?«
Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Ich erinnerte mich an den Bericht, den ich in der letzten Woche zweimal im Vorbeigehen gesehen hatte: einmal in dem Café unweit der Newcross-Oberschule und einmal durch Liz’ Wohnzimmerfenster . Frau in der Themse treibend aufgefunden.
» Das war Sona?«
Er nickte.
»Aber ich dachte, sie sei zu ihrer Familie zurückgebracht worden.«
»Das denkt der Rest der Welt auch.«
Ich spürte, wie mir die Galle hochstieg und sich meine Muskeln vor Zorn verkrampften. »Also alles nur gelogen?«
»Der Teil, wie sie gefunden wurde, stimmt. Die Zeugenaussagen sind auch korrekt. Aber der Rest nicht. Nicht sie hat um Anonymität gebeten. Eigentlich hat sie gar keine Forderungen gestellt.«
»Und was genau ist passiert?«
»Sie wurde um sieben Uhr morgens von der Themse angespült. Ein leeres Touristenboot hat sie aufgelesen, und einer der Fremdenführer hat die Polizei verständigt. Sie war leicht unterkühlt und hatte eine Gehirnerschütterung. Außerdem war sie benommen und verwirrt. Hat nicht viel geredet. Wusste nicht, wo sie war. Kein Ausweis, keine klaren Angaben, woher sie kam oder was mit ihr passiert war. Und sie war ziemlich übel zugerichtet.«
»In welcher Hinsicht?«
»Blutergüsse. Viele Schnittwunden. Sie blutete.«
»Und wie ging es weiter, nachdem sie aus dem Wasser gezogen worden war?«
»Sie wurde auf schnellstem Weg in die Notaufnahme gebracht. Und die Fremdenführer haben Interviews gegeben. Am nächsten Morgen kam es in den landesweiten Nachrichten. Da haben Phillips und Hart Wind davon gekriegt. Zum Glück war die Hälfte ihres Gesichts entstellt, sodass eine Personenbeschreibung schwierig war. Die Fremdenführer haben den Zeitungen alles erzählt, was sie wussten, was jedoch nicht viel war. Am nächsten Tag hat die Soko verbreitet, sie werde auf Ende vierzig geschätzt …«
Was hieß, dass sie nicht zur Altersgruppe der vermissten Frauen – einschließlich Sona – gehörte. Den Familien wurden also keine Hoffnungen gemacht. Wieder ein Leck gestopft, bevor das Schiff unterging.
»Ein paar Tage später hat Phillips das nächste Märchen in die Welt gesetzt: Sie und ihre Familie wollten anonym bleiben. Ende der Geschichte.«
Mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen starrte ich in die Nacht hinaus. So viele Lügen. Eine nach der anderen. »Wie konnte man das alles vertuschen?«
»Was meinen Sie damit?«
»Warum hat die Abteilung für interne Angelegenheiten nicht Wind davon bekommen? Die Leute reden doch. Sie können mir nicht weismachen, dass die gesamte Polizei dichtgehalten hat.«
»Kann ich – weil es so war.«
»Es ist nichts durchgesickert?«
Er zuckte die Schultern. »Die Sonderkommissionen sind klein. Alle kennen sich. Bevor sie der Abteilung für interne Angelegenheiten irgendetwas verraten würden, würden sie eher ihre Uniformen verbrennen. Polizisten, die gegen Kollegen ermitteln, sind der letzte Dreck.«
Ich erinnerte mich an Phillips’ Bemerkung gegenüber Healy vorhin am Telefon. Es gibt einen Grund, warum Sie nicht dieser Sonderkommission oder irgendeiner anderen angehören. Man kann Ihnen nicht vertrauen. »Wie kommt es, dass Sie so viel wissen, obwohl alle so schrecklich verschwiegen sind?«
»Als Leanne verschwand, hat mir einer der Jungs bei der Suche geholfen. Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren. Er hat mir einiges verraten. Den Rest habe ich selbst rausgekriegt.«
Ich betrachtete ihn. Der Rest stand ihm ins Gesicht geschrieben:
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