Blutiges Schweigen
beauftragt er Markham, drei weitere – Leanne, Megan und Sona – zu kidnappen. Warum?«
»Vielleicht, um sich hinter ihm zu verstecken.«
»Warum hat er das nicht von Anfang an getan?«
Ich verstand, worauf Healy hinauswollte. »Wegen Frank White.«
»Genau. Ich glaube, dass Glas bis zum fünfundzwanzigsten Oktober letzten Jahres wunderbar allein klargekommen ist. Fünf Frauen entführt, ohne dass ihm jemand das Handwerk gelegt hätte. Dann passiert das Fiasko im Lagerhaus. Frank White stirbt, und plötzlich merkt Glas, dass er nicht unverwundbar ist. Ihm wird klar, dass ein einziger Fehler genügt, um das Kartenhaus zum Einsturz zu bringen. Und deshalb setzt er Markham unter Druck.«
»Wegen seiner Verbindung zum Jugendclub.«
»Richtig. Glas sieht Megan an einem beliebigen Ort – auf der Straße, im Bus, irgendwo – und folgt ihr zum Jugendclub. Dort bemerkt er Markham und vielleicht auch, wie Megan
ihn anschaut, und ihm wird klar, dass er über Markham Zugriff auf Megan hat, ohne die Entdeckung zu riskieren. Und außerdem ist da noch ein zusätzlicher Bonus …«
»Susan Markham.«
Healy nickte. »Glas stöbert ein wenig in Markhams Vergangenheit herum und findet heraus, dass er nicht nur mit Megan bekannt, sondern auch wegen seiner Frau erpressbar ist.«
Ich blickte zwischen Healy und dem Fernseher hin und her. Healy betrachtete mich mit ausdrucksloser Miene. Er verströmte den Geruch von Schweiß und Rasierwasser. Vielleicht war das einfach seine Methode, mit seinen Gefühlen umzugehen: Er unterdrückte und verdrängte sie, bis er sie eines Tages nicht mehr zurückhalten konnte und etwas tat, das er anschließend wirklich bereute. Zum Beispiel, seiner Frau eine Halskrause zu verpassen. Oder mit seiner Tochter zu streiten. Oder seinem Vorgesetzten anzukündigen, er werde ihren Entführer eigenhändig einen Kopf kürzer machen.
Als ich das Band weiterlaufen ließ, klickte und surrte es.
»Wenn Sie das hier sehen, hat er mich wahrscheinlich umgebracht«, sagte Markham und hielt kurz inne. »Vermutlich, weil ich versucht habe, einen Ausweg zu finden. Ich kann nicht mehr. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Leanne, Megan. Inzwischen beschränken wir uns nicht mehr auf den Jugendclub: Sona …« Er nahm Blickkontakt zur Kamera auf. »Ich weiß, dass es immer so weitergehen und dass er mich immer weiter benutzen wird, wenn ich mich nicht wehre. Und obwohl …«
Er hielt inne. Tränen traten ihm in die Augen. Er tat mir fast ein wenig leid. Ein eigentlich guter Mensch war gegen seinen Willen in eine solche Lage gebracht worden. Allerdings konnte ich ihm nicht verzeihen, dass er die Frauen entführt hatte. Manchmal musste man den Sprung ins kalte Wasser
wagen und den Mut finden, das Richtige zu tun. Und für Markham wäre es das Richtige gewesen, sich zu weigern.
Markham rutschte auf seinem Stuhl herum. Dann förderte er ein Foto zutage, das entweder unter seinem Bein geklemmt oder in seiner Tasche gesteckt hatte, und hielt es in die Kamera.
»Das ist Sue«, sagte er. Sie war hübsch: dunkelhaarig, zierlich, strahlende Augen. Auf dem Foto wirkte sie beinahe schüchtern. Sie wandte sich leicht von der Kamera ab. Ein Lächeln stand auf ihrem Gesicht. Sie trug eine weiße Bluse und eine Halskette, ein silbernes Herz, das an ihrer Kehle baumelte. »Können Sie ihr etwas von mir ausrichten, wenn Sie sich dieses Band anschauen? Können Sie ihr sagen, dass ich zwar schreckliche Dinge getan und es nicht verdient habe, dass man mir verzeiht, aber …« Die Stimme versagte ihm. »Es tut mir einfach so leid.«
Mit diesen Worten stand er auf und ging zur Kamera – und alles wurde schwarz.
Healy rührte sich nicht. Als ich mich zu ihm umdrehte, starrte er noch immer auf den dunklen Bildschirm. Nach einigen Sekunden bewegte er sich und blickte mich an. In einem Auge glitzerte eine Träne. Im nächsten Moment wandte er sich ab.
»Wir kriegen den Kerl«, versicherte ich ihm.
Er antwortete nicht, sondern saß da wie erstarrt.
»Wir kriegen ihn, das schwöre ich Ihnen.«
57
Vierzig Minuten später krochen wir die City Road entlang zu der Sozialbausiedlung in King’s Cross. In einem der staatlich subventionierten Einfamilienhäuser und abgeschottet gegen die Außenwelt wohnte die Frau, die entkommen war.
Sona war ein gewaltiger Durchbruch. Ein Treffer, der eigentlich
sofort nach ihrem Auftauchen zur Aufklärung des Falls hätte führen müssen. Doch stattdessen wurde alles, was sie gesehen hatte
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