Blutiges Schweigen
zwar ein wenig lauter, aber noch immer zurückhaltend.
»Ich bin Detective Sergeant Colm Healy«, sagte er. Er legte eine Sanftheit in seinen Tonfall, die ich bis jetzt noch nicht an ihm wahrgenommen hatte. »Ich gehöre zur Operation Gaslicht. Wir sind uns noch nicht begegnet, aber ich habe gehofft, kurz mit Ihnen sprechen zu können. Wir hatten neue Entwicklungen in diesem Fall, und ich würde Sie gerne einige Dinge fragen.«
Ich hatte den Eindruck, dass Papiere durchgeblättert wurden.
»Sie stehen nicht auf meiner Liste.«
»Ich weiß.« Er warf mir einen Blick zu. Seine Miene verriet mir, dass es offenbar nicht nach Plan lief. »Wenn Sie ans Fenster kommen, halte ich meinen Ausweis hoch.«
Wieder wurde geblättert. Dann erklangen Schritte. Healy wich zurück, trat an das Fenster, das sich neben der Tür befand, und drückte seinen Dienstausweis an die Scheibe. Der Vorhang geriet in Bewegung und öffnete sich. In der V-förmigen Lücke erkannte ich eine Frau, eigentlich nur ihren Umriss, die mit den Armen den Vorhang seitlich auseinanderhielt. Ihre Augen wanderten vom Dienstausweis zu Healy und dann zu mir. Der Vorhang schloss sich wieder. Erneut Schritte.
»Und wer ist der andere?«
»Sein Name ist David Raker. Er ermittelt in Vermisstenfällen und versucht, Megan Carver zu finden.«
»Er steht auch nicht auf der Liste.«
»Megan Carver wurde von demselben Mann entführt wie Sie.«
Wieder Schweigen. Obwohl ich wusste, dass Healy die Wahrheit sagte, klang seine Erklärung sogar in meinen Ohren verdächtig. Zwei Männer, von denen keiner auf der von der Sonderkommission erstellten Liste der Kontaktpersonen aufgeführt war, standen plötzlich vor ihrer Tür, und das um zehn Uhr abends. Nur einer hatte einen Dienstausweis. Der andere war nicht einmal bei der Metropolitan Police beschäftigt. Deshalb wäre es verständlich gewesen, wenn sie uns nicht hereingelassen hätte. Doch stattdessen ertönte ein Geräusch, als würde ein Riegel zurückgeschoben. Dann öffnete sich die Tür einen winzigen Spalt breit.
In der Lücke erkannten wir blondes Haar und ein Stück Gesicht. Ein Auge. Einen Teil der Nase. Ein bisschen Wange. Das Auge blickte zwischen uns und dem Hof hin und her.
»Darf ich bitte Ihren Ausweis sehen?«, fragte sie.
Healy nickte. »Natürlich.«
Er förderte ein kleines schwarzes Mäppchen zutage, entnahm ihm den Dienstausweis und reichte ihn ihr durch den Türspalt. Sie griff danach, verschwand kurz, um ihn einer Musterung zu unterziehen, und gab ihn zurück. Dann sah sie mich an. »Und Sie?«
Ich zückte die Brieftasche, zog Führerschein und Visitenkarte heraus und händigte ihr beides aus. Nach einem kurzen Blick darauf kehrte sie damit zurück in die Wohnung. Irgendwo im Hintergrund konnte ich ein leises Klappern hören. Etwa eine Minute später kehrte sie zurück. Sie schaute zwischen dem Führerschein und mir hin und her. Schließlich drückte sie mir beides in die Hand und schloss die Tür. Ich hörte, wie die Kette abgenommen wurde. Healy sah mich noch einmal an, diesmal ohne etwas zu sagen. Doch die Botschaft von vorhin stand ihm ins Gesicht geschrieben. Lassen Sie sich nichts anmerken.
Die Tür öffnete sich.
Sona stand in der Tür und betrachtete uns. Sie war einmal eine Schönheit gewesen. Blondes Haar. Blaue Augen. Ein apart geschnittenes Gesicht mit schmaler Nase und hohen Wangenknochen. Sie trug eine Jogginghose und ein ärmelloses T-Shirt. Ihre Arme waren nackt. Selbst wenige Jahre vor ihrem vierzigsten Geburtstag war sie schlank, und die Haut an ihren Armen war hell und rosig. Sie hatte lange und anmutige Finger, die so makellos und glatt waren wie bei einer Zwanzigjährigen. Ich erinnerte mich, in ihrer Akte gelesen zu haben, dass sie früher für Versandhauskataloge Modell gestanden hatte. Das konnte ich mir gut vorstellen.
Nur, dass der Betrachter inzwischen einzig und allein auf seine Vorstellungsgabe angewiesen war.
Sie war aufgewacht, ehe Glas seine Operation beendet gehabt
hatte. Helle Flecken bedeckten den Großteil ihres Gesichts, als breite sich Farbe unter der Haut aus. Beide Wangen waren völlig gebleicht. Die Falten an ihrer Stirn und in der winzigen Spalte an ihrem Kinn waren weiß, als sei ihr eine Flüssigkeit übers Gesicht gelaufen und habe sich dort angesammelt. Dasselbe galt für ihren Hals und die Vertiefungen an der Kehle. Auf der rechten Gesichtshälfte zog sich eine Narbe den Haaransatz entlang. Auf der linken war eine an der gleichen Stelle zu
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