Blutiges Schweigen
Ärmel hervorlugte. Wahrscheinlich der am besten gekleidete Säufer Londons.
»Gutes Frühstück?«, erkundigte er sich, ohne aufzublicken.
»Ziemlich gut, ja.«
»Du klingst überrascht«, erwiderte er mit ruhiger Stimme.
»Bin ich.«
»Das solltest du nicht sein. Das Frühstück hier ist wirklich gut.«
»Ich weiß«, antwortete ich. »Ich habe es gerade probiert.«
Ich nahm einen Zwanziger aus der Tasche.
»Dein Mädchen«, fuhr er fort, drehte sich um und schob die Flaschen weg, als wolle er vergessen, dass er sich zum Frühstück drei Bier genehmigt hatte. »Megan. Sie hat einen sympathischen Eindruck gemacht.«
Nun hatte er meine Aufmerksamkeit. »Kanntest du sie?«
»Nein, ich kannte sie nicht.« Er nahm eine der Flaschen und trennte sie von den anderen. »Aber ein paar Tage, nachdem sie verschwunden ist, waren die Bullen bei mir und haben Fragen gestellt.«
Ich starrte ihn an. Er richtete sich auf, lächelte und wandte sich zu mir um. Offenbar merkte er mir an, was in meinem Kopf vorging: Dem Säufer gehört der Laden?
»Bist du der Geschäftsführer?«
»Besitzer. Ich beschäftige einen Geschäftsführer.«
»Was wollte die Polizei von dir wissen?«
»Dasselbe wie du eben. War sie hier? Hatte sie je Schwierigkeiten?« Er hielt inne, stellte die Bierflasche wieder zu den anderen und sah mich an. »Ich hatte keine Antworten für sie, ebenso wenig wie jetzt für dich. Und wenn sie jahrelang hier Stammgast gewesen wäre, hätte ich nicht mehr über sie sagen können als über jemanden, der zum ersten Mal kommt.« Er zuckte die Schultern, und in seinen Augen malte sich ein Anflug von Bedauern. »So ist das in solchen Schuppen.«
»Hat die Polizei etwas mitgenommen?«
»Die Bänder aus den Überwachungskameras.«
»Wie viele?«
»Alle, die wir hatten.«
»Und wie viele waren das?«
»Wir heben sie immer ein Jahr lang auf. Das ist ein Rat von unseren Anwälten und der Sicherheitsfirma, für den Fall, dass es Ärger gibt und wir vor Gericht müssen. Ein weiteres Jahr lagern wir sie in einem Bankschließfach in der Nähe von St. Paul’s, allerdings nur in einfacher Kopie. Was älter ist als zwei Jahre, wird entsorgt.«
»Also hat die Polizei die Aufnahmen eines Jahres sichergestellt?«
»Nur sechs Monate vor und einen Monat nach ihrem Verschwinden, natürlich einschließlich des tragischen Tages selbst.«
»Haben sie was gefunden?«
»Das musst du sie selbst fragen«, entgegnete er. »Aber da das Zeug wieder oben in meiner Schreibtischschublade liegt, würde ich eher nein sagen.«
Er schaute mich an, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus wie Risse auf einer Glasscheibe. In diesem Moment wurde mir klar, dass Trinken für diesen Mann weder Genuss, Sucht noch Zeitvertreib war, sondern die Suche nach
einem Ausgang. Als sich unsere Blicke am Tresen trafen, war es kurz so, als sähe ich mein eigenes Spiegelbild.
»Alles in Ordnung?«
Er nickte und wandte sich ab. »Vielleicht kann ich dir helfen.«
Als er sich wieder zu mir umdrehte, füllte sich eines seiner Augen mit Tränen. Er stand auf und bedeutete mir, ihm in den ersten Stock zu folgen.
Er hieß Paulo Janez. Sein Büro ging auf eine enge, von Stadthäusern und schmalen Bürogebäuden gesäumte Londoner Seitenstraße hinaus. An der einen Wand prangte ein riesiges schwarz-weißes Bild von Tony Montana, an der anderen hingen verschiedene Fotos. Auf den meisten von ihnen war er mit einem Mann zu sehen, der vermutlich sein Vater war, denn sie glichen sich wie ein Ei dem anderen: dunkle Haut, schwarzes Haar, braune Augen, ausgesprochen gut gekleidet. Er ertappte mich dabei, dass ich die Bilder betrachtete.
»Mein Vater«, sagte er leise und setzte sich an seinen Schreibtisch, wo er eine Schublade aufzog und darin herumkramte. Ich nahm ihm gegenüber Platz und sah ihm wortlos zu. Nach einer Weile förderte er sieben mit zwei Gummibändern zusammengehaltene DVDs zutage und legte sie vor mich auf den Schreibtisch.
»Bedien dich«, meinte er und zeigte darauf.
»Sind das die sieben Monate, die die Polizei mitgenommen hat?«
»Korrekt.«
Ich holte eine Visitenkarte heraus und reichte sie über den Schreibtisch. Mein Versprechen, dass ich ihm die DVDs zurückgeben würde. Er griff nach der Karte, studierte sie und nickte als Zeichen, dass er verstanden hatte.
»Bist du verheiratet?«, fragte er.
»Nicht mehr.«
»Geschieden?«
Ich hielt inne. Vielleicht erspürte er dasselbe in mir wie ich in ihm. Eine Verbindung
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