Blutiges Schweigen
zwischen uns. Eine Trauer, die unter der Haut brodelte.
»Meine Frau ist an Krebs gestorben«, erwiderte ich schließlich.
Wieder nickte er und schien beinahe erleichtert, als habe er schon begonnen, an seinem Instinkt zu zweifeln. »Mein Vater starb vor zwei Monaten. Er war der einzige Mensch, der mir je wirklich etwas bedeutet hat.«
»Das tut mir leid.«
Ein trauriges Lächeln glitt über sein Gesicht, und er schwieg einen Moment. »Nimm die DVDs und schau, ob sie dir weiterhelfen. Hoffentlich … allein schon wegen der Familie.«
9
Kurz vor drei Uhr nachmittags öffnete Caroline Carver das Tor zu ihrem Grundstück und beobachtete, wie ich in die mit Kies bedeckte Auffahrt einbog. Sie lächelte. Doch wie vor ein paar Tagen im Restaurant war das Lächeln nur aufgesetzt. Vermutlich hatten sich vor Megans Verschwinden die Leute auf der Straße nach ihr umgedreht. Aber die hagere, erschöpfte Frau, die mich nun hereinbat, war sicher nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst.
Wir gingen in die Küche, wo Leigh im Schneidersitz auf dem Boden saß und Autos über das Linoleum schob.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte sie.
»Ein Schluck Wasser wäre wunderbar.«
Sie nickte, fügte aber nichts hinzu. Während sie am Wasserhahn ein Glas füllte, wurde mir klar, dass sie mir noch immer
ein Rätsel war. Normalerweise durchschaute ich meine Mitmenschen ziemlich gut und verstand ihre Beweggründe. Ich war nicht sicher, ob es sich um ein angeborenes Talent oder um eine erlernte Fähigkeit handelte, erworben in all den Jahren, in denen ich Politikern zugehört hatte, wenn sie logen wie gedruckt. Bei Caroline Carver verhielt es sich jedenfalls anders. Obwohl sie sich so benahm, wie man es von einem trauernden Elternteil erwartete — abweisend, nah am Wasser gebaut und innerlich zerrissen vom Verschwinden ihres Kindes –, blitzte manchmal etwas anderes auf: eine starke und harte Frau, die ihre Gefühle so tief begraben konnte, wie es nötig war.
»Wie kommen Sie voran?«, fragte sie schließlich auf dem Weg ins Wohnzimmer. Als sie Leigh im Vorbeigehen den Kopf tätschelte, erfolgte keine Reaktion.
Ich setzte mich ihr gegenüber. »Im Moment untersuche ich dieselben Spuren wie damals die Polizei. Ich muss mich vergewissern, dass nichts übersehen wurde.«
Ich legte meinen Block zwischen uns auf den Tisch und klappte ihn auf. Sie blickte zwischen mir und dem Block hin und her. Offenbar nahm sie zur Kenntnis, dass ich anfangen wollte.
»Könnten Sie mir vielleicht von den letzten Wochen erzählen?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, ob es da viel zu erzählen gibt. Da Jim wegen eines neuen Auftrags in Enfield war, war es meistens ich, die Meg während der letzten vierzehn Tage zur Schule gefahren hat. Ganz bestimmt an dem Morgen, als sie verschwand.«
»Hat sie an diesem Tag auf Sie so wie immer gewirkt?«
»Ja«, erwiderte sie. »Alles war bestens. Sie war ein positiver Mensch. Keine Ahnung, woher sie das hat, denn Jim und ich können manchmal ein bisschen … nun, launisch sein.« Sie lächelte —
das erste echte Lächeln, seit ich sie kannte. Allerdings verflog es rasch wieder. »Deshalb war sie vermutlich so eine gute Schülerin. Sie war immer ausgeglichen, nie überdreht oder niedergeschlagen. Ein erstaunliches Mädchen.«
»Was können Sie mir über Charles Bryant sagen?«
Caroline sah mich an. Ich war nicht sicher, ob sie mir damit mitteilen wollte, dass sie ihn nicht mochte, oder ob sie überrascht war, weil ich ihn überhaupt erwähnte.
»Meg ist eine Weile mit ihm gegangen.«
»Haben Sie ihn kennengelernt?«
»Ich habe ihn ein Mal getroffen.«
»Wie lange dauerte die Beziehung?«
»Nicht lange. Vielleicht zwei oder drei Monate.«
»Wie war er denn so?«
Sie zuckte die Schultern. »Er machte einen netten Eindruck. Es war eine schwere Zeit für ihn.«
»Megan hat ihn nicht geliebt?«
»Eindeutig nicht«, antwortete sie und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich war das das Problem. Sie hat sich mit ihm eingelassen, weil er ihr leidtat. Deshalb, weil er seine Mutter verloren hatte. Außerdem war sie ein guter Mensch und hat sofort bemerkt, dass er jemanden brauchte, der ihm half, den Verlust zu verarbeiten.«
»Wie hat er die Trennung verkraftet?«
»Was meinen Sie damit?«
Ich musterte sie. Das waren keine Spielchen, obwohl sie sich bestimmt denken konnte, worauf ich hinauswollte. Vielleicht behagte ihr ja der Gedanke nicht, dass ihre Tochter einen Freund gehabt
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