Blutiges Schweigen
die Glück gehabt hatten. Denn das Schlimmste war es, meinen Auftraggebern gegenüberzusitzen und ihnen mitteilen zu müssen, dass das Kind, dem sie das Leben geschenkt hatten, aus diesem Leben wieder herausgerissen worden war.
8
Tiko’s — der Lieblingsschuppen von Megan, Kaitlin und Lindsey — befand sich zwischen einer Schwulenkneipe namens Captain S und einem Tattoo-Salon in der Charing Cross Road. Als ich die mit Aztekenmasken dekorierte dunkle Holztür öffnete, schlug mir eine markerschütternde Rhythm-and-Blues-Bassline entgegen. Tausend Fernseher bombardierten meine Augen mit MTV. Es waren nur der Barmann und ein einziger Gast anwesend. Der Gast hatte zwei Bierflaschen vor sich, beide bereits leer. Es war kurz nach elf Uhr vormittags.
»Morgen«, sagte der Barmann, als ich eintrat.
Auf dem Tresen verkündete ein Schild, dass hier Frühstück serviert wurde.
»Morgen. Was gibt’s denn heute?«
»Alles, was du willst.« Er schaute sich um und polierte währenddessen ein Glas. »Der Koch ist nicht gerade überbeschäftigt.«
»Dann nehme ich Eier, Speck, Toast und schwarzen Kaffee.«
»Kein Problem«, erwiderte er. »Setz dich.«
Ich suchte mir einen Platz am Tresen, etwa fünf Barhocker von dem Mann mit den Bierflaschen entfernt. Als er aufblickte, waren seine Augen blutunterlaufen. Ich nickte. Er nickte ebenfalls. Dann ließ er den Kopf wieder sinken und starrte in die leeren Flaschen.
Ich nahm das Lokal in Augenschein. Es bestand aus zwei mit einer Wendeltreppe verbundenen Etagen. Über Bar und Tanzfläche befand sich eine schmale Empore. Vermutlich gab es schlimmere Methoden, den Samstagabend totzuschlagen. Allerdings fiel mir im Moment keine ein.
Wenige Minuten später kehrte der Barmann zurück. Als Erstes griff er in einen der Kühlschränke und holte eine Bierflasche heraus. »Das Essen ist bestellt, Kaffee kommt gleich«, verkündete er, öffnete die Flasche und gab sie dem Mann. »Möchtest du was anderes trinken, während du wartest?«
»Ja, habt ihr Orangensaft?«
Er nickte. Ich griff in die Tasche und förderte ein Foto von Megan zutage, das ich aus der Box genommen hatte. Es stellte sie zu Hause und in Schuluniform dar. Wahrscheinlich war es bereits ein paar Jahre alt, aber sie hatte sich im Vergleich zu den aktuelleren Fotos nicht sehr verändert. Manchmal musste man nämlich auf die Tube drücken. Je jünger das Opfer, desto höher der Gefühlspegel und die Hilfsbereitschaft. Als der Barmann den Saft vor mich hinstellte, hielt ich das Foto hoch.
»Ich bin nicht nur zum Frühstücken hier«, sagte ich. »Ich arbeite für die Familie eines Mädchens, das häufig hier war.« Ich legte das Foto auf den Tresen und schob es zu ihm hinüber. »Erkennst du sie?«
Er warf einen Blick auf das Foto. »Wenn ich mir die Schuluniform anschaue, hätte sie noch gar nicht hier reingedurft.«
»Ich verrate nichts.«
Er nickte mit einem leichten Lächeln. »Mir kommt sie nicht bekannt vor.«
»Wie ich annehme, war vor etwa einem halben Jahr die Polizei bei euch.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Polizei?«
»Sie war oft mit zwei anderen Mädchen im selben Alter hier.«
»Wird sie vermisst?«
»Sie heißt Megan Carver.«
Kurz weiteten sich seine Augen. Offenbar sagte ihm der Name etwas. »Das Mädchen aus den Nachrichten. Das verschwunden ist.«
»Genau.«
Wieder betrachtete er das Foto, als versuche er, etwas wahrzunehmen, das ihm zuvor entgangen war. Dann schüttelte er den Kopf und schob das Foto wieder zu mir hinüber. »Ich erinnere mich an die Nachrichtenmeldungen. Aber ich habe in Thailand die Füße hochgelegt, als sie verschwand. Ich arbeite erst seit vier Monaten hier.«
Ich nickte und steckte das Foto ein. »Gut, dann warte ich einfach auf mein Frühstück.«
Als es wenige Minuten später gebracht wurde, entpuppte es sich als erstaunlich gut. Das Eigelb war weich und der Speck knusprig, und die Toastscheiben troffen von Butter. Ich aß, stellte den Teller weg und trank den Kaffee und den Saft. Der Barmann wischte am anderen Ende des Raums die
Tische ab. Der Gast fünf Barhocker weiter hatte gerade sein drittes Bier geleert.
Ich betrachtete ihn. Er starrte, ein Auge offen, das andere geschlossen, auf die leeren Bierflaschen. Sein Gesicht war bartstoppelig, und sein Haar sah aus, als sei es seit Wochen nicht mit Shampoo in Berührung gekommen. Allerdings war er gut angezogen: Hose von Diesel, Pulli von Ted Baker, Jacke von Quicksilver und eine Gucci-Uhr, die unter seinem
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