Blutiges Schweigen
zum Telefon und wählte die Nummer. Es klickte, die Verbindung wurde hergestellt. Nach viermaligem Klingeln klickte es wieder, und der blecherne Klang eines Anrufbeantworters war zu hören. »Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton«, verkündete eine gelangweilte Männerstimme. Bis Spike mir die Adresse beschaffte, die hinter dem Postfach steckte, konnte ich also nicht viel tun.
Allerdings standen mir in Sachen Charlie Bryant einige Möglichkeiten offen. Ich wusste, wo er wohnte. Und nun war es Zeit herauszufinden, wie gut er eingeweiht war.
16
Als ich das Haus der Bryants erreichte, war es halb drei Uhr. Ich klingelte und drückte mir die Nase an der Glasscheibe der Haustür platt. Regen prasselte auf das Hartplastikdach der Veranda, ein Geräusch, als würde ein Eimer mit Nägeln ausgekippt. Selbst wenn jemand zu Hause gewesen wäre, hätte ich unmöglich hören können, ob sich drinnen etwas bewegte. Aber es war niemand da. Das Haus war dunkel und still und verbreitete die kalte, leblose Stimmung eines leer stehenden Gebäudes. Kein Licht. Keine Wärme. Kein Hinweis darauf, dass jemand hier wohnte.
Ich ließ den Blick über das Haus und die Einfahrt schweifen. Dank der Bäume am Eingang und entlang der Grundstücksgrenze war es von der Straße aus kaum zu sehen. Das Nachbarhaus stand ein gutes Stück entfernt hinter einer Backsteinmauer von mittlerer Höhe. Für ein Haus in London war ein so großes Grundstück ungewöhnlich. Ich fragte mich, womit Charlie Bryants Vater wohl seine Brötchen verdiente.
Endlich wurde der Regen ein wenig schwächer und ging in ein Nieseln über.
Und da roch ich es.
Ich verließ die Veranda und steuerte auf das Seitentor zu. Der Geruch wurde stärker. Auf der anderen Seite konnte ich einige Müllsäcke sehen, aus denen Rasenschnitt quoll. Das Gras hatte sich in Mulch verwandelt, der sich auf dem Beton verteilt hatte und die Backsteinmauer des Hauses verfärbte. Daneben lehnten weitere, von Tieren aufgerissene Müllsäcke. Essensreste lagen auf dem Gartenweg. Das Tor bestand aus massiver Eiche und war von guter Qualität. Ein hölzerner Riegel verlief quer über die Mitte. Durch die Latten war auf der anderen Seite ein dickes Vorhängeschloss zu erkennen.
Ich schaute in beide Richtungen, um festzustellen, ob ich beobachtet wurde. Dann kletterte ich über das Tor. Kurz blieb ich stehen und betrachtete das Haus. Gras schmatzte unter meinen Füßen.
Der Geruch war jetzt stärker.
Auf dieser Seite hatte das Haus zwei Fenster und eine Tür. Das erste Fenster gehörte zur Küche. Halbdunkel. Holzschränke. Edelstahlgeräte. Ein Foto von Charlie Bryants Mutter in einem grünen Rahmen auf der Mikrowelle. Alles war sauber. Alles stand an seinem Platz. Das zweite Fenster war ein Toilettenfenster. Ein Lufterfrischer auf dem Fensterbrett. Wegen der Milchglasscheibe konnte ich kaum etwas sehen. Ich ging zur Tür und erkannte durch die Glasscheibe, dass sie in einen kleinen Lagerraum führte. Waschmaschine. Trockner. Gefrierschrank. Ein Weinregal voller Flaschen. Stiefel und Schuhe, aufgereiht neben einem Napf Hundefutter, in dem Insekten wimmelten.
Rasch ging ich ums Haus herum.
Der Garten war klein und auf allen Seiten von einem hohen Holzzaun umgeben. An der rückwärtigen Mauer wuchsen hohe Föhren. Hinten hatte das Haus ein großes Fenster und eine Terrassentür. Ich hielt die Hände seitlich ans Gesicht und spähte durch die Scheibe in einen langen Raum, der bis zur Vorderseite des Hauses reichte. Ledersofas. Bücherregale. Moderne Kunst an den Wänden. Ein Fernseher mit DVD-Stapeln ringsherum und einer Spielkonsole darunter. Als ich von der Tür zurücktrat, bewegte sie sich leicht. Sie war offen.
Ich streckte die Hand nach dem Türgriff aus und schob sie auf.
Der Geruch schlug mir entgegen.
Er schwappte aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse wie ein Brecher. Die Hand vor dem Mund, trat ich ein. Im Haus
war es so still wie auf einem Friedhof. Bis auf das Brummen des Kühlschranks in der Küche war kein Geräusch zu hören.
»Mr Bryant?«
Ich erwartete keine Antwort und bekam auch keine.
»Charlie?«
Ich steuerte auf die Treppe zu. Beim Hinaufgehen wurde der Geruch stärker. Oben hörte ich einen Wasserhahn tropfen. In den Zimmern, in die ich hineinschaute, schien alles in Ordnung zu sein. Nur die vierte Tür war geschlossen. Oben am Türrahmen wimmelten Schmeißfliegen, die benommen durch das ungelüftete Haus taumelten. Ich zog den Jackenärmel über die
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