Blutiges Schweigen
Finger und legte meine bedeckte Hand auf die Türklinke.
Langsam öffnete ich die Tür.
Es war ein kleines Zimmer, etwa neun Quadratmeter groß. Die Vorhänge waren halb zugezogen. Durch die Lücke konnte ich die Seite des Hauses sehen. Im Zimmer war es warm und stickig. Auch die Fensterscheibe war voller Fliegen, und weitere Insekten krabbelten über den Teppich. In einer Zimmerecke sah ich den Familienhund. An seiner Flanke klaffte eine Wunde. Vorn und genau parallel nebeneinander lagen Charlie Bryant und sein Vater.
Sie waren beide tot.
Der Vater lag auf dem Bauch und hatte die Hände mit Isolierband auf dem Rücken gefesselt. Unter ihm hatte sich eine Blutlache ausgebreitet. Inzwischen war sie getrocknet. Die Teppichfasern waren steif. Seine Haut war grünlich verfärbt. Unter seinem Gesicht krochen Maden hervor.
Charlie blickte zur Decke. Seine Brust war voller Blut. Aus unerklärlichen Gründen sah er im Tod jünger aus als siebzehn Jahre. Ich machte noch einen Schritt ins Zimmer. Seine Beine waren seitlich zu einem A gebogen und an den Knöcheln gefesselt. Sein Mund stand leicht offen, so als habe
er um Hilfe gerufen. Sein Augenausdruck wies in dieselbe Richtung.
Er hatte seinen Mörder um Gnade angefleht.
17
Ich rief die Polizei und wartete vor dem Haus. Zehn Minuten später waren sie da. Sobald das Haus mit einem Absperrband gesichert war, bat mich ein Spurensicherungsexperte, meinen Weg über das Grundstück nachzuvollziehen. Nachdem das erledigt war, stellte man an der Seite und hinten jeweils ein Zelt auf, und es wurde von nun an nur noch diese Route benutzt. Niemand wich davon ab, denn man wollte trotz des Regens so viele Spuren sichern wie möglich.
Anschließend begleitete mich ein uniformierter Polizist vor das Haus, wo einer seiner Kollegen mit einem Klemmbrett stand und jeden aufschrieb, der kam oder ging. Am Tor flatterte Absperrband im Wind. »Hier«, sagte einer und reichte mir einen Schirm. Ich spannte ihn auf. »Gleich kommt jemand und spricht mit Ihnen.«
Fünfzig Minuten später traten zwei Kriminalbeamte aus dem Haus. Einer war Ende dreißig, dunkelhaarig, schlank und geschmeidig und trug einen eleganten schwarzen Regenmantel und einen schwarzen Anzug mit lachsfarbener Krawatte. Sein Kollege war kräftiger, älter und grauer und schätzungsweise Anfang fünfzig. Er hatte sich weniger Mühe mit seinem Äußeren gegeben: schmutzig braune Jacke, Jeans, dicker roter Wollpullover und weiße Turnschuhe. Der Jüngere steuerte auf mich zu. Offenbar hatte er hier das Sagen.
»Mr Raker?«
Ich nickte. Er war Schotte.
»Ich bin DCI Phillips«, verkündete er und zeigte auf seinen
Partner. »Das ist DS Davidson. Wir müssen uns unterhalten. Entweder erledigen wir das hier in diesem Chaos oder auf dem Revier, wo ich Ihnen einen Kaffee und etwas Essbares anbieten kann.«
Er sprach leise und mit beherrschter Stimme. Die Hände hatte er in einer fast respektvollen Geste ineinandergeflochten. Die Finger der rechten Hand spielten immer wieder an dem Ehering herum, den er links trug. Allerdings durchschaute ich ihn. Es war nur Theater. Er wollte mir vermitteln, dass er ein vernünftiger Mensch war, dem ich vertrauen und mein Herz ausschütten konnte. Doch hinter der Fassade hatte er noch eine andere Seite.
»Mr Raker?«, wiederholte er.
»Bin ich verhaftet?«
Davidson, der neben Phillips stand, schnaubte. Ich warf ihm einen Blick zu. Er war kein so guter Schauspieler wie sein Partner und hatte eine aggressivere Ausstrahlung. Kleine dunkle Augen. Arme verschränkt. Kopf zur Seite geneigt, als betrachte er mich von oben herab.
»Verhaftet?«, wiederholte Phillips und drehte sich kurz zu seinem Partner um. »Warum sollten wir Sie verhaften wollen? Sie haben doch nichts ausgefressen, oder?«
Als ich nichts erwiderte, wurde ihm klar, dass seine übliche Methode bei mir nichts fruchten würde. Vielleicht hatten wir ähnliche Interessen und dieselben Bücher gelesen. Ich hatte Jahre mit dem Versuch verbracht, meine Mitmenschen besser zu verstehen und ihre Lügen zu durchschauen. Politiker. Prominente. Leute, die Schlagzeilen machten. Er vermutlich auch. Er hatte sich bemüht, in die Köpfe der schlimmsten Ausgeburten der Menschheit hineinzuschauen.
»Warum kommen Sie nicht einfach mit?«, fragte er leise und musterte mich.
Fast war ich versucht, nein zu sagen und zu gehen. Doch
mit einer Weigerung hätte ich mich nur verdächtig gemacht. Gesetzlich war ich nicht verpflichtet, ihn zu begleiten,
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