Blutiges Schweigen
sechsunddreißig Minuten der viertausend Stunden im Bild, und noch dazu in winzigen Zeitabschnitten und in Abständen von jeweils einem Monat. Ich hatte ihn auch nur zufällig entdeckt. Reine Glückssache.
Aber er war da.
Und er beobachtete Megan.
15
Freitag. Nachdem ich um acht Uhr aufgestanden war und mir einen Kaffee gemacht hatte, saß ich am Wohnzimmerfenster, blickte auf den Garten hinaus und musterte ein Foto, das den Mann aus dem Tiko’s zeigte. Ich hatte die beste Ansicht seines Gesichts auf dem Bildschirm abfotografiert und das Foto ausgedruckt. Die Qualität hatte durch die Vergrößerung gelitten.
Aber es genügte.
Er schien Anfang dreißig zu sein. Ungewöhnlich blass, pechschwarzes Haar mit einem altmodischen Seitenscheitel. Ein sehr kantiges Gesicht, nur Knochen und Sehnen, die Wangen leicht eingefallen, die Nase schmal und gerade. Er hatte wulstige Brauen, wodurch seine Augen wie zwei winzige Lichtpunkte aussahen, was ihm eine merkwürdige Ausstrahlung verlieh: so, als sei er nicht von dieser Welt, ein Mann, gemalt nur in den tiefsten Schwarz- und leuchtendsten Weißtönen. Er schien nicht sehr groß zu sein, eins siebzig, vielleicht sogar weniger. Keine Muskeln, zumindest nichts, was darauf hingewiesen hätte.
Aber etwas stimmte nicht mit ihm. Er hatte etwas Unheilverkündendes an sich.
Er musterte Megan wie ein Jäger seine Beute. In tiefster Konzentration. Mit Geduld. Seine Augen verfolgten jede ihrer
Bewegungen. Seine Körperhaltung war leicht geduckt, als wolle er bewusst kleiner wirken. Wie eine gespannte Bügelfalle. Er machte einen bedrohlichen Eindruck, so als würden sein Körperbau und seine Größe im Ernstfall keine Rolle spielen. Denn dann würde ihn nichts mehr aufhalten können.
Er würde sich nehmen, was er wollte.
Ich rief Kaitlin an und verabredete mich um elf Uhr mit ihr, da sie dann eine Freistunde hatte. Anschließend wollte ich mit DCI Jamie Hart sprechen. Es war ein Drahtseilakt. Einerseits brauchte ich seine Hilfe, weil ich in Erfahrung bringen musste, wie weit die Ermittlungen gediehen waren, bevor man den Fall zu den Akten gelegt hatte. Doch andererseits wollte ich verhindern, dass Hart wieder Interesse an Megans Verschwinden bekam und sich einmischte. Vielleicht erwies ich der Polizei ja einen schlechten Dienst. Möglicherweise hatten sie den Mann aus dem Tiko’s ja schon als verdächtige Person eingestuft und überwachten ihn. Allerdings war es um einiges wahrscheinlicher, dass sie ihn völlig übersehen hatten. Außerdem wollte ich nicht, dass die Polizei sich mit dem Mann befasste, bevor ich nicht Gelegenheit gehabt hatte, selbst herauszufinden, wer er war.
An der Schule angekommen, bog ich auf den Parkplatz hinter dem Gebäude für die sechsten Klassen in der Nähe des Zauns ein, über den Megan vermutlich geklettert war, um nicht ins Visier der Überwachungskameras zu geraten. Kaitlin erwartete mich schon. Ihre Tasche lag auf der Motorhaube eines verbeulten Ford Fiesta neben einem Aktenordner und einem Stapel Schulbücher. Ich stieg aus dem BMW. Der Morgen war zwar trocken, aber schwül und verhieß Regen. In der Ferne hinter den Hausdächern rings um die Schule hing bereits ein grauer, bedrückender Dunst, so als würde eine Decke über die Stadt gezogen.
Ich lächelte Kaitlin zu. »Guten Morgen.«
Sie erwiderte zwar mein Lächeln, wirkte aber ein wenig verhalten. Vielleicht rechnete sie ja mit einer Gardinenpredigt, weil sie der Polizei nicht gesagt hatte, was sie wusste.
Ich hob die Hand. »Es interessiert mich nicht, was Sie getan haben.«
Das schien sie ein wenig zu erleichtern, und sie schlug vor, in ein Café zu gehen, das etwa einen Dreiviertelkilometer von der Schule entfernt war. Es bestand aus zwei Etagen. Die obere hatte eine Glasfront, vor der kleine runde Tische standen. Nachdem ich für Kaitlin einen Milchkaffee geholt hatte, setzten wir uns an den Tisch, der so weit wie möglich von den anderen entfernt war. Ich holte Stift und Block heraus und sah sie auffordernd an. Sie schaute nach unten und beobachtete die Passanten auf dem Gehweg.
»Alles in Ordnung?«
Als sie den Kopf hob, stand ein leicht unsicherer Ausdruck in ihren Augen, so als befürchte sie, ich könnte ihr eine Falle stellen. »Alles bestens«, erwiderte sie schließlich.
»Also, wann haben Sie erfahren, dass Megan schwanger war?«
»Drei Wochen vor ihrem Verschwinden.«
»Wie ist das abgelaufen?«
»Ich war bei ihr zu Hause, um mit ihr zusammen an einem
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