Blutiges Schweigen
wie eine mürrische Grimasse.
Überraschenderweise deckte sich Healys Version der Ereignisse vor Leannes Verschwinden im Großen und Ganzen mit der von Gemma, seiner Frau. In keinem der beiden Berichte wurde erwähnt, dass er sie geschlagen hatte, obwohl Gemma ausgesagt hatte, er sei »zornig und aggressiv« geworden, als er von ihrer Affäre erfuhr. Healy selbst spielte am Anfang seiner Aussage den Moralapostel und berief sich auf die Heiligkeit der Ehe, bevor er zugab, dass er seine Frau »möglicherweise geängstigt« hatte, als sie ihm ihren Seitensprung gestand. Er meinte, er sei »ihr ein wenig näher gekommen«, als gut gewesen sei. Irgendwo in der Mitschrift hatte Gemma dem vernehmenden Beamten Folgendes mitgeteilt: »Wenn Colm so viel Zeit in seine Familie wie in seinen Beruf investiert hätte, wäre Leanne am fraglichen Abend vermutlich nicht gegangen.«
Einer ihrer Brüder hatte Leanne zuletzt lebend gesehen. Sie waren am Sonntagnachmittag, also am dritten Januar, zusammen zu Hause gewesen und hatten sich eine DVD angeschaut. Mitten im Film habe Leanne gesagt, sie müsse kurz raus. Um halb vier habe sie das Haus verlassen und sei nicht mehr zurückgekommen. Um acht Uhr rief ihr Bruder Gemma an, die gerade bei einer Freundin zu Abend aß. Gemma ihrerseits verständigte Healy im Büro. Sieben Stunden später meldete Healy das Verschwinden seiner Tochter, und sie wurde als vermisste Person registriert.
Hinten in der Akte befand sich ein Vermisstenplakat in
Schwarz-Weiß, das dasselbe Foto von Leanne zeigte. Leanne Healy, Alter bei Verschwinden: 20. Leanne, wohnhaft in St. Albans, Herfortshire, wird seit dem 3. Januar vermisst. Ihr derzeitiger Aufenthalt ist unbekannt. Es besteht Sorge um ihr Wohlergehen. Leanne ist eins fünfundsechzig groß, hat schulterlanges blondes Haar und blaue Augen und eine durchschnittliche Statur . Darunter waren die Nummer einer Hotline und eine Liste der Örtlichkeiten aufgeführt, die sie vor ihrem Verschwinden häufig besucht hatte.
Es handelte sich hauptsächlich um Pubs und Diskotheken, das College, an dem sie studiert hatte, und ein Café gleich um die Ecke von ihrem Elternhaus, wohin sie vor ihren Abschlussprüfungen meistens am Samstagvormittag zum Lernen gegangen war. Doch ich stieß auch noch auf einen anderen Namen und eine Adresse, die ich kannte: Barton-Hill-Jugendprojekt, Chestnut Road 42, Islington, London .
Derselbe Jugendclub, in dem Megan sich engagiert hatte.
Und wo sie den Mann kennengelernt hatte, von dem sie schwanger geworden war.
Das Loch
Sona erwachte. Das Erste, was sie sah, war eine leuchtende, vielleicht eins achtzig lange Linie, etwa zweieinhalb Zentimeter über ihr. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte sie fest, dass sie auf einer Matratze in einer Art Loch lag. Der Boden bestand aus nackter Erde, die Wände aus Backstein, an dem Wasserrinnsale hinunterliefen. Über ihr und in unerreichbarer Höhe befand sich eine Falltür. Die schmale leuchtende Linie entstand dadurch, dass der Lukendeckel nicht richtig in die Öffnung des Lochs passte.
Das Loch war schätzungsweise zwei Meter tief. Es war in den Fußboden geschlagen worden, und durch die erleuchtete Ritze konnte Sona Teile eines Stahlschranks, ein Spülbecken und eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit erkennen, die auf einer Arbeitsfläche stand.
Offenbar eine Art Werkstatt.
»Hilfe!«
Kein Geräusch war zu hören. Keine Reaktion. Nichts rührte sich. Sona stützte sich an der Wand ab, stand auf und verharrte eine Weile reglos. Ihr Schädel pochte noch immer, und sie spürte einen Bluterguss am Kiefer. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Dann schritt sie das Loch ab und reckte den Kopf in verschiedene Richtungen, um den Raum über der Falltür besser in Augenschein nehmen zu können. Aber sie sah nur weitere Teile derselben Ausstattung: das Spülbecken aus Edelstahl, den Schrank.
Sonst nichts. Keine Schatten, die sich bewegten. Kein Lebenszeichen.
»Mark!«
Stille.
»Mark, bitte !«
Immer noch Stille.
Diesmal schrie sie, bis ihr die Stimme versagte, und ihr Herz klopfte wie wild. Es trommelte einen Rhythmus gegen ihren Brustkorb, und Tränen verschleierten ihr den Blick. Nachdem sie sie weggewischt hatte, schloss sie die Augen und sah ihn in der Dunkelheit, wie er neben ihr im Bett lag und sie dann in den Wald führte.
Bzzzzz .
Sie riss die Augen auf.
Ein Geräusch von oben. Sie griff nach oben, krallte die Finger in die Wand und
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