Blutiges Schweigen
Lochs stehend. Seine Finger zuckten, und ein Lächeln kroch wie eine Wunde über sein Gesicht. »Hast du den Dummy gesehen?«
Er hielt inne. Das Wort Dummy war ein wenig verzerrt. Darauf folgte ein Knistern wie bei einer Tonstörung. Wimmernd verkroch Sona sich in der hintersten Ecke des Lochs.
»Da werde ich deinen dämlichen Kopf drannähen.«
24
Ich besorgte mir die Telefonnummer des Jugendclubs. Aber nachdem ich es zehnmal hatte durchläuten lassen, legte ich auf. Dann rief ich die Carvers an und fragte, ob ich vorbeikommen könne. James antwortete, sie würden bis zum Mittag zu Hause sein. Doch am Samstagnachmittag unternähmen sie stets eine Ausfahrt mit seiner Mutter, die die restliche Woche in einem Pflegeheim in Brent Cross verbrächte.
Die Fahrt dauerte vierzig Minuten. Ich nahm die Route am Barton Hill vorbei, um mir ein Bild von dem Jugendclub zu machen. Er war geschlossen. Ein Messingschild am Eingang verkündete, dass die Einrichtung von Montag bis Freitag zwischen neun und einundzwanzig Uhr geöffnet hatte. Das Gebäude stand etwa einen halben Kilometer vom Haus der Carvers entfernt, unweit des Bahnhofs King’s Cross auf einem kleinen dreieckigen Grundstück zwischen zwei Hauptstraßen. Es verbreitete den ästhetischen Charme eines Verladecontainers: keine Fenster, Wellblechverkleidung bis auf eine Höhe von etwa zwei Metern, wo eintöniges rotes Mauerwerk begann. Die große verrostete Tür war mit einem überdimensionierten Vorhängeschloss gesichert. Vielleicht war das Geld ja für die Innenausstattung ausgegeben worden.
Ich kehrte auf die Pentonville Road zurück und fuhr zu den Carvers. Das Tor war bereits offen. Als ich die Auffahrt hinaufging, stand James Carver im Türrahmen, den er mit seiner massigen Gestalt beinahe ausfüllte. Er beobachtete
den dunkel bewölkten Himmel, der in diesem Moment seine Schleusen öffnete. Wir schüttelten einander die Hand und flüchteten uns ins Haus.
Caroline stand in der Küche. Sie blickte auf und begrüßte mich. Sofort spürte ich, dass zwischen den beiden Spannungen herrschten. Offenbar fühlte sich Carver noch immer von seiner Frau hintergangen. Außerdem glaubte er vermutlich, dass er seine Tochter nicht so gut gekannt hatte wie seine Frau, ein Eindruck, der seit ihrem Verschwinden wahrscheinlich stärker geworden war.
Wir setzten uns ins Wohnzimmer, während Caroline Kaffee machte. Hinter uns in einer Zimmerecke spielte Leigh mit einer Holzeisenbahn.
»Wie stehen die Dinge?«, fragte Carver.
»Es geht voran. Ich bin auf einige interessante Hinweise gestoßen. Einer davon ist der Grund, warum ich heute hier bin.«
Er breitete die Hände aus. »Schießen Sie los.«
Caroline brachte ein Tablett mit Kaffeetassen und Keksen, das sie auf den Glastisch zwischen uns stellte. Ich bedankte mich und griff nach einer Tasse.
»Ist Charles Bryant einer dieser Hinweise?«, fragte Carver.
Beide starrten mich an und warteten auf eine Antwort. Auf der Hinfahrt hatte ich beschlossen, die Ereignisse des Vortags nicht zu erwähnen, obwohl sie es morgen ohnehin in der Zeitung lesen würden. Doch nun sahen sie mich an und stellten die Frage, die ihnen wirklich auf der Zunge lag: Ist Megan ebenfalls tot?
»Im Moment gibt es keine Verbindung zu Megan, außer dass sie ihn kannte.«
Tief in ihrem Innersten und in ihren düstersten Momenten malten sie sich vermutlich ein ähnliches Ende für ihre eigene Tochter aus und sahen sie auf einem Feld oder in einer Seitengasse
liegen. Und dann sich selbst, wie sie im Dämmerlicht eines rechtsmedizinischen Instituts standen, während Megans nackte, geschändete Leiche starr vor ihnen lag.
»Sagt Ihnen der Name Barton Hill etwas?«
Carver runzelte die Stirn. Caroline nickte eifrig.
»Ja«, erwiderte sie. »Megan ist vor ihrem Verschwinden häufig dort gewesen. Es ist ein Jugendclub, eine Art Stadtviertelprojekt für spastisch gelähmte Jugendliche.«
»Ach, der Jugendclub«, meinte Carver. Er trug ein wenig zu dick auf. Ich hatte recht gehabt. Er hatte inzwischen eindeutig das Gefühl, auf der falschen Seite der Scheibe zu stehen und seine Tochter und deren Mutter anzusehen, ohne zu ahnen, wie viel Wissen sie ihm noch voraushatten.
»Können Sie mir sonst noch etwas darüber erzählen?«
Caroline zuckte die Schultern. Sie war noch immer gekränkt. Carver warf ihr einen Blick zu. Sie verstand und wandte sich wieder an mich. »Nur das, was ich von Megan weiß. Sie haben Aktivitäten für spastisch gelähmte Jugendliche
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