Blutiges Schweigen
hörte, wie er seine Aufzeichnungen durchblätterte. »Den Markierungen zufolge stammt es aus einer GSh-18. Also russisch. Illegal eingeführt, also unmöglich nachzuverfolgen.«
»Gut. Und eine Personenbeschreibung des Chirurgen?«
»Mittelgroß, normale Figur.«
»Sonst noch etwas?«
»Nein. Er ist ein Rätselmann.«
»Hat schon mal jemand sein Gesicht gesehen?«
»Das wird dir gefallen. Der Informant sagt, der Chirurg sei stets mit einer weißen Plastikmaske zu Besprechungen erschienen. Kein Dekor. Nur Löcher für Augen, Nase und Mund.«
»Soll das ein Scherz sein?«
»Der Mann ohne Gesicht.«
Ich hielt inne und schaute mich um. Der Regen prasselte noch immer gegen die Fensterscheiben. Auf der anderen Straßenseite
hasteten Menschen, die Mäntel über den Kopf gezogen, durch das Unwetter.
»Wie haben Gobulevs Leute ihn genannt?«
»Dr. Glas.«
»Ist das sein richtiger Name?«
»Da er mit Maske zu Besprechungen kommt, würde ich das bezweifeln.«
»Hast du sein Alias mit HOLMES oder PNC abgeglichen?«
Das Home Office Large Major Enquiry System – die Datenbank des Innenministeriums – wurde von britischen Polizisten dazu benutzt, bei Schwerverbrechen zu recherchieren. Im Police National Computer – der landesweiten Datenbank der Polizei – waren sämtliche in Großbritannien gemeldete Fahrzeuge, gestohlene Gegenstände und Menschen verzeichnet, die entweder vermisst wurden oder vorbestraft waren.
»Nichts«, verkündete Tasker.
»Wirklich keine Rückmeldung?«
»Für dieses Alias nicht.«
Ich dachte an Jill. Nun kannte ich zwar den falschen Namen des Mannes, der Frank auf dem Gewissen hatte, doch das war kein großer Fortschritt.
»Sorry, Raker, mehr kann ich leider nicht liefern.«
»Nein, Task, das war spitze. Danke für deine Hilfe.«
»Brauchst du sonst noch was?«
» Könntest du mir vielleicht eine Kopie der Akte schicken? Ich habe jemandem versprochen, da ein wenig nachzuforschen, und möchte sichergehen, dass ich nichts übersehen habe.«
»Morgen früh habe ich ein Golfturnier in Surrey. Um sechs Uhr morgens geht es los. Ich werfe dir auf dem Weg die Ausdrucke in den Briefkasten.«
»Sehr gut, alter Junge. Ich weiß es zu schätzen.«
Ich beendete das Gespräch und steckte das Telefon weg. Jill
tat mir zwar leid, doch ich war mit der Sackgasse recht zufrieden, denn Megan hatte derzeit Priorität.
28
Zurück an meinem Schreibtisch, machte ich mich über mein Steaksandwich her und klickte dabei Google Maps an. Innerhalb von Sekunden sah ich via Satellit Hark’s Hill Woods aus der Vogelperspektive vor mir. Es war ein seltsam geformtes Stück Land. Anderthalb Quadratkilometer Wald mitten in einem unbeschreiblich stark besiedelten Teil der Stadt. Die Straße nördlich des Waldes schien neu zu sein und führte in eine Art Industriegebiet. Einen halben Kilometer südlich standen die Häuser dicht an dicht und erstreckten sich durch London bis zur Themse. Rings um den Wald erhoben sich die Skelette alter Industriebauten – Färbereien, Gießereien, Munitionsfabriken –, einige noch aufrecht, aber verfallen, doch die meisten waren eingestürzt und nichts als Ruinen. Offenbar war die gesamte Gegend, abgesehen von den Neubauten im Norden und den Häusern im Süden, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs völlig in Vergessenheit geraten. Nur der Wald war immer höher gewachsen, während die Fabriken weiter verfielen.
Nachdem ich mein Sandwich aufgegessen hatte, fing ich an, mich über das Gebiet kundig zu machen. Als ich Hark’s Hill Woods googelte, erhielt ich 98400 Treffer, von denen sich die meisten auf den Fall Milton Sykes bezogen. Ich sah mir die Suchergebnisse an. Auf der dritten Seite stach mir auf halbem Weg etwas ins Auge. Eine Enzyklopädie der Serienmörder.
Ich klickte sie an.
Als ich mich zum Buchstaben S und von dort aus zu Sykes vorarbeitete, stieß ich auf ein leicht verschwommenes Foto
von ihm, begleitet von einer von Rechtschreibfehlern strotzenden Erläuterung dessen, was ich bereits wusste: seine Kindheit, seine Opfer und seine Beziehung zum Wald. Am Ende des Zweizeilers bei Google stand ein Satz, der mich aufmerken ließ: Es heißt, dass Sykes manchmal das Alias Grant A. James benutzte . Grant A. James. Der Brief vom London Conservation Trust an Megan war von einem G. A. James gewesen. Im nächsten Moment fiel mir der Name in ihrem Buch des Lebens ein, der niemandem etwas gesagt hatte: A. J. Grant.
Ich lehnte mich zurück.
Vom
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