Blutjägerin (German Edition)
Visitenkarte.
Sie kehrte zurück und betrat das Zimmer ihres Vaters. Ein Raum, der sich von den anderen darin unterschied, dass er wesentlich größer und nobler eingerichtet war, mit edlen Möbeln, einem Sekretär und zahlreichen Bücherregalen, handgeknüpften Teppichen an Boden und Wänden. Und seine Trophäensammlung, vor der sie sich bereits als Kind gefürchtet hatte. Auch jetzt fand sie das halbe Dutzend Köpfe, von denen zwei ausgestopft und der Rest aus ausgekochten Schädelknochen bestand, ekelhaft. Obwohl es die Köpfe und Schädel von bestialischen Vampiren waren, mit weit herausragenden Reißzähnen, hielt sie es schon immer für falsch, einen Sieg auf derartig erniedrigende Weise zur Schau zu stellen. Unzählige Male hatte sie mit ihrem Vater darüber gestritten.
Ihr Ziel war der Sekretär. Darauf lagen Rechnungen und Briefe. Sie tastete über das kunstvolle Relief des Tischbeines, bis sie den kleinen, als Perle getarnten Schalter fand. Er öffnete mit leisem Klicken ein unter einem Wappen verborgenes Fach. Ihr Vater hatte es ihr gezeigt. Und sie wusste, dass sie im Falle seines Todes hineinschauen sollte.
In der schmalen Lade lag ein versiegeltes Testament, eine Versicherungspolice, diverse Besitzurkunden, Bankunterlagen und Vaters Tagebuch. Ihr blieb die Luft weg. Ihr war, als würde sie in ein fremdes Haus einbrechen. Sie betrachtete die Papiere undstaunte nicht schlecht. Er besaß Beteiligungen an mehreren Gesellschaften, Aktienpakete, mehrere Häuser in Wien. Hinzu kamen eine Lebensversicherung auf ihren Namen und das Testament, von dem sie nicht wusste, was darin stand.
Am meisten Respekt hatte sie vor Vaters Tagebuch. Es dauerte einen Augenblick, bis sie den Mut aufbrachte, es zu öffnen. Sie nahm sich vor, es irgendwann vollständig zu lesen, nun aber interessierten sie vor allem die Einträge der letzten Wochen. Viel hatte er nicht geschrieben und auch nur in unregelmäßigen Abständen.
Ein Eintrag stach ihr ins Auge. Er stammte vom elften Dezember 2007, einem Monat vor Mutters zehntem Todestag. Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Sekretär und begann zu lesen.
Ein weiterer Todestag meiner geliebten Frau naht und endlich scheint es, als hätte ich ihren Mörder gefunden. Es hat beinahe zehn Jahre gedauert, nach ihm zu suchen, doch nun werde ich Rache üben für den Schmerz, der in meinem Herzen brennt
.
Ich habe das Gefängnis in der Zwischenzeit umgebaut und dafür gesorgt, dass keiner dieser Bestien dem Raum entfliehen kann. Er soll nicht sofort sterben, nein, sondern eine ganz besondere Trophäe an meiner Wand werden, die Letzte wohlgemerkt. Ja, er soll büßen, ich werde ihn quälen und beobachten, wie er langsam dem Blutdurst erliegt
.
Eiskalt lief es ihr über den Rücken. Sie las die Zeilen noch einmal, spürte seinen Zorn und fragte sich, weshalb er den Vampir getötet hatte, wenn er ihn doch einsperren wollte. Sie sprang zum nächsten Eintrag, vom 24. Dezember 2007
.
Es sind Tage wie diese, an denen ich meine Anais am meisten vermisse. Ich möchte am liebsten sterben, mich von dieser Qual befreien. Doch ich habe noch eine Aufgabe, eine letzte Jagd, die ich meiner geliebten Tochter schulde. Ich habe sie durch meinen Wahn aus meinen Leben getrieben. Sie hält mich für einen Verrückten und ich kann es ihr nicht verübeln
.
Sie atmete tief durch, schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und kämpfte gegen die Tränen an. Bei Gott, er hatte tatsächlich geglaubt, ihr etwas zu schulden. Schließlich las sie den letzten Absatz, vom 3. Januar 2008.
Die Falle ist gelegt. Nun muss ich dafür sorgen, dass sie zuschnappt. Wie es scheint, verfällt gerade jetzt die Welt um mich herum in Wahnsinn. Wilhelm ist seit Tagen verändert, noch zurückhaltender als sonst und da ist auch noch dieser Jäger aus Venedig, Jonathan Firenze. Ich traue ihm nicht
.
„Kommen Sie.“ Der junge Mann führte Jonathan durch einen Kreuzgang, bis sie an eine Tür gelangten. „Er wird sie empfangen.“
„Ich danke Ihnen.“ Jonathan verneigte sich, wandte sich der Tür zu und klopfte an.
„Treten Sie ein“, hallte es aus dem Inneren.
Es war ein Studierzimmer, mit antiken Möbeln und zahlreichen Tischen und Bücherregalen ausgestattet. Hinter einem der Sekretäre saß ein alter Mann, der sich erhob, als Jonathan die Tür hinter sich schloss.
„Kardinal Angelo?“, fragte Jonathan, um sicherzugehen.
„Der bin ich.“ Der Mann trat hinter dem Tisch hervor. „Man sagte mir, Sie wollten mich
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