Blutkirsche
den übrigen Garten. Die Beete waren verfilzt, die Sträucher sahen ungeschnitten aus und in der Wiese blühten Löwenzahn und Schachtelhalm. |122| Der Geräteanbau war verschlossen. Anne rüttelte an der Laubentür. „Zu!“
Auf dem Holztisch unter einer Pergola deutete die halb aufgegessene Brezel und eine Tasse mit undefinierbarem Inhalt, in dem sich Insekten tummelten, auf einen schnellen Aufbruch hin.
„Okay, hier finden wir nichts!“ Anne zuckte mit den Schultern.
„Hast du die Telefonnummer von Tressel?“
Der Aufzug zu Lorenz Tressels Wohnung im vierten Stock stank nach Schmieröl und dem eigentümlichen Odeur von Armut. Der Boden klebte, und eine Fahrstuhlwand wurde als Tafel missbraucht. ‚Fotze‘ und ‚Irina ist Fickmaschine‘ stand mit dickem Filzstift geschrieben.
Anne machte „pff“ und verzog die Mundwinkel nach unten. Marco runzelte verächtlich die Stirn. Sie blickten sich an und bejahten ihre Einschätzung mit einem kleinen Kopfnicken.
„Guten Tag, Herr Tressel, können wir uns mal mit Ihnen unterhalten?“, fragte Anne den grauhaarigen Mann mit dem struppigen Seemannsbart. Tressel blickte sie traurig durch eine randlose Brille an und zog die Stirn in tiefe Falten, wodurch sich der Eindruck von Verzweiflung in seinem Gesicht verstärkte.
In Annes Notizen stand Tressels Geburtsdatum: Dieser Mann wirkte wesentlich älter als fünfzig.
Die kleine Wohnung von Tressel entpuppte sich als ungewöhnliches Heim. Seine Einrichtung bot ein Gemisch von Pop Art und Retrolook der Fünfzigerjahre – einem Nierentisch mit schwarzer Resopalplatte unter der Stehlampe in Tulpenform, augenscheinlich Originale. Auf dem Tisch stand ein kristallenes Kabarett, eine mehrfach unterteilte Glasschale, in der Salzstangen und Nüsse lagen. Die Tasten des Röhrenradios, Marke Grundig, schimmerten wie Elfenbein. Eine Juke-Box blinkte. Aus ihrem Lautsprecher ertönte Elvis Presleys Timbre. Der mit großblumigem Muster bezogene Schalensessel ergänzte die Einrichtung. Eine Wand beklebte eine braun-grüne Tapete mit großen Ornamenten, an einer anderen hing eine Andy-Warhol-Lithografie. Unmengen von Science-Fiction-Büchern bevölkerten jeden freien Platz zwischen den Möbeln. Ein altes Hygrometer, verbunden mit einem Barometer zeigte die augenblickliche Situation des Raumklimas an.
„Was sagt man dazu?“, bemerkte Marco leise zu Anne.
|123| Als Lorenz die zwei Kommissare in seine Wohnung bat, machte sich bei ihm Erleichterung breit, dass nun alles herauskam und er aus seinem Herzen keine Mördergrube mehr machen musste. Zu müde, um irgendeinen klaren Gedanken zu fassen, hatte er in den letzten Tagen keine Energie gefunden, die Wetterdaten abzulesen. Es war ihm alles zu viel gewesen. Stundenlang beobachtete er aus dem Fenster den Regen, der schließlich in einen Platzregen und Hagel überging. Die Schlechtwetterfront hockte jetzt fest und würde sich so leicht nicht vertreiben lassen. Doch noch mehr als die Gewitter und die inzwischen andauernde Nässe hatte ihn das Erlebnis im Garten von Harry Kohl abgehalten, zu seiner Parzelle zu fahren.
Der tägliche Rhythmus hatte seinem Leben Stabilität und Sicherheit gegeben, damit war es jetzt vorbei. Die besorgten Mails von seinem Kollegen von Wetterpool, was denn los sei, ob er krank sei, ließ er unbeantwortet.
Lorenz fühlte sich krank, aber die Krankheit äußerte sich nicht körperlich, sondern in seiner Schlaflosigkeit und den Albträumen. Er kramte die Tabletten aus seinem Küchenschrank hervor, denn es machte ihn elend, und es schüttelte ihn noch immer, wenn er daran dachte, was er auf dem Laptop von Harry Kohl entdeckt hatte. Eindeutig eine Pornoseite der übelsten Art, wo Männer sich an kleinen Mädchen vergingen und filmten, damit andere daran teilhaben konnten. Und das Schlimmste daran: Er glaubte seine Sophie erkannt zu haben.
Natürlich fünf Jahre älter, aber das Mädchen sah wie Sophie aus. Lorenz hatte von einem Computerspezialisten, auf der Grundlage der Fotos von ihm und seiner Frau, eine virtuelle Fotografie Sophies, ihrem jetzigen Alter entsprechend, anfertigen lassen.
Im ersten Augenblick reagierte Lorenz geschockt. Aber als Harry nach dem Disput mit Frau Möhrle – die inzwischen ihren Garten verlassen hatte – zu seiner Laube zurückschlenderte, ging Lorenz wutentbrannt auf ihn zu und wollte ihn am Kragen packen, die Wahrheit aus ihm herausschütteln. Bereiste Harry als Pharmavertreter vielleicht auch das
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