Blutkirsche
Telefonhäuschen, neben einem leerstehenden Bürohaus gefunden hatten und ausstiegen. An dem dreigeschossigen Gebäude mit großen, völlig verdreckten Glasfenstern klebten Plakate. Manche waren zur Hälfte abgerissen, andere mehrfach überkleistert. Abfall übersäte das Straßenpflaster wie auch die zwei Betonkübel, in denen Bäume gepflanzt waren. Die Gleise der Stadtbahn trennten den Bahnhofsvorplatz in zwei Teile, auf dem einen vor dem Bahnhofsgebäude warteten zwei Taxis und ein Bus auf Fahrgäste. Dazwischen, auf dem Boden, saß ein Punk, er hielt einen Plastikbecher und ein Schild: ‚Wohnungslos! Bitte um eine Spende‘ in seinen Händen.
Eine Glasscheibe der Bahnhofstür war zersprungen, die Turmuhr war auf fünf stehen geblieben, obwohl es schon zehn Uhr war. Eine Stadtbahn |129| fuhr schnurrend über die Gleise und hielt unter dem Dach der Haltestelle.
„Schön hässlich habt ihr es hier“, bemerkte Marco trocken.
„Ja, seitdem die Post weg ist“, Anne zeigte auf das leere Gebäude, „verwahrlost der Wiener Platz.“
„Na, wenigstens gibt es einen Spitzbunker, in dem man sich verstecken kann, wenn einem der Anblick zu viel wird.“ Marco grinste sarkastisch und machte eine Kopfbewegung zum Schutzraum neben dem Bahnhof, während die beiden zurück zur Kremser Straße gingen. Es fing an zu regnen, das Schmuddelwetter verstärkte den tristen Eindruck der Straße und des Platzes.
An der Vorderseite des Hauses von Frau Möhrle, neben der Wirtshaustür, war eine Schiefertafel befestigt. Auf ihr stand mit Kreide geschrieben: ‚Mittagstisch – Kesselgulasch 8,80 Euro / Schlachtplatte mit Sauerkraut 9,80 Euro.
Ein handtuchbreites Beet mit blühenden Hortensienbüschen lag an der linken Seite, daneben führte ein gepflasterter Weg zur Eingangstür des Wohnbereichs. Die Tür stand offen. Die beiden Polizisten klingelten und gingen hinein. Im Treppenhaus roch es nach abgestandenem Fett und ungewaschenen Wollsocken.
Die Korridortür im ersten Stock wurde nur einen Spalt geöffnet, eine Kette spannte sich dahinter.
Eine Frau fragte misstrauisch: „Wie sind Sie denn reingekommen? War mal wieder offen? Was wollen Sie denn?“
„Grüß Gott, sind Sie Frau Möhrle? Kripo Stuttgart, das ist Frau Wieland und ich bin Herr Schneller“, entgegnete Marco und hielt seinen Ausweis hoch, den die Frau gründlich beäugte.
„Ja, ich bin Frau Möhrle. Wissen Sie, heutzutage kann man nicht vorsichtig genug sein. Nicht nur, dass unsereins dauernd von Callcentern angerufen wird, oft steht auch irgend so ein Typ vor meiner Tür, will mir eine neue Stromgesellschaft andrehen und lässt sich kaum abwimmeln. Aber ich kann mir vorstellen, weshalb Sie hier sind, kommen Sie rein!“
Mit einem Mal wirkte Frau Möhrle freundlich und schob die Verriegelung zurück, um die Tür zu öffnen. Sie trug eine kittfarbene Stoffhose und eine weite gemusterte Bluse, die ihre molligen Hüften kaschierte. Ihr aschblondes Haar war zu einer Art Königin-Beatrix-Beton-Frisur aufgetürmt. In einer Ecke des Flures bemerkte Anne einen Baseball-Schläger.
Also, ist doch nicht so harmlos, wie es den Anschein hat, dachte sie.
|130| Frau Möhrle hatte Annes Blick beobachtet und beruhigte sie: „Ist nur zur Abschreckung, bisher habe ich den Prügel noch nie benutzt.“
„Aha, aber was anderes?“, erkundigte sich Marco spitzfindig.
Frau Möhrle lacht schallend, während sie die Polizisten in ihr Wohnzimmer bat. In dem Raum waren alte und neuere Möbel zu einem geschmackvollen Ensemble zusammengefügt. An den Wänden hingen Stiche mit Stuttgarter Motiven, kombiniert mit Bildern moderner Maler. Ein bis zu Decke reichendes Bücherregal beherrschte eine ganze Wand des Zimmers. Den Erker an der Fensterfront füllte ein kleiner Biedermeierschreibtisch aus, auf dem ein Computerbildschirm und eine Tastatur standen.
Anne versuchte den Text im Word Dokument zu erkennen.
„Entschuldigung, ich bin gerade am Schreiben“, erklärte Frau Möhrle und fügte hinzu: „Tee, Kaffee, Wasser?“
„Für uns nichts, danke“, entgegnete Anne. „Aber vielleicht könnten wir jetzt die Fragen an Sie richten?“
„Gerne, fragen Sie!“ Frau Möhrle setzte sich auf ein weißes Ledersofa und machte mit der Hand in Richtung zweier Sessel eine einladende Bewegung.
„Wo waren Sie vergangenen Samstagmorgen zwischen sechs und zehn Uhr?“
„Ist das die Tatzeit?“, fragte Frau Möhrle und überlegte eine paar Sekunden lang.
„Samstag habe ich bis sieben Uhr
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