Blutkirsche
vielleicht konnte sie trotzdem das Essen genießen, vielleicht würde es die Verhandlung angenehmer machen. Wie sie die Situation und ihren Geldbeutel einschätzte, konnte dies für lange Zeit der letzte Besuch in einem teuren Restaurant sein, wenn eintraf, was sie befürchtete.
Der Ausblick auf das Neue Schloss, den Schlossgarten und im Hintergrund auf Häuser, die sich in die Hänge schmiegten, davor in der Konrad-Adenauer-Straße das Wilhelmspalais und die Staatsgalerie entlohnte ein wenig dafür, dass es noch immer regnete und das mediterrane heitere Flair auf dem Platz fehlte. Bei gutem Wetter bevölkerten Heerscharen von Menschen sich sonnend und flanierend die Freitreppen und den Rasen vor dem Palais. Oder saßen Latte Machiato trinkend auf der Terrasse vor dem Museum. Bis in den Winter hinein konnte man hier unter Heizstrahlern, in Decken gehüllt, sitzen und von einer erhöhten Position aus Passanten beobachten und sich wie auf einer südländischen Piazza fühlen.
Günther Wöhrhaus erwartete sie. Mit ungewöhnlichem Eifer und einem siegesgewissen Lächeln auf den Lippen erhob er sich und platzierte sie. Während Anne sich setzte, und er ihren Stuhl in einer symbolischen Geste nach vorne schob, beugte er sich von hinten über sie und flüsterte ihr ins Ohr: „Gut siehst du aus, Anne, du wirst immer schöner!“
„Ich bitte dich, Günther, keine Schmeichelein! Komm zur Sache, ich habe wenig Zeit“, bat Anne ungeduldig. Sie schüttelte ihn ab.
|160| „Der sardische Rosé ist ausgezeichnet hier, Anne!“, empfahl Günther. „Du hast doch sicher Hunger. Sie haben frische Krebsschwänze reinbekommen.“
Ohne ihre Antwort abzuwarten rief er: „Herr Ober!“ Sofort eilte die schwarz gekleidete Bedienung herbei. „Zweimal die Fettucini mit den Krebsschwänzen und dazu eine Flasche ihrer heutigen Weinempfehlung, junger Mann.“
Anne fügte sich. Hunger hatte sie tatsächlich. Entgegen ihrer Gewohnheit ließ sich Anne ein zweites Glas Rosé eingießen. Sie hasste es, in aussichtsloser Situation und in die Enge getrieben zu sein. Schon jetzt kam Günther ihr wie eine riesengroße Spinne vor, die ihr Opfer genüsslich betrachtete, lauerte, um es dann in einem raschen Angriff zu verschlingen.
Mehr als ein: „Das schmeckt ausgezeichnet“ zwischen den einzelnen Bissen entrang ihren Lippen nicht.
Unvermittelt zog Günther aus seinem schwarzen Sakko ein gefaltetes Stück Papier hervor und schob es ohne Worte zu Anne hin.
Sie las lautlos: ‚Mit 99,99 prozentiger Sicherheit ist Herr Günther Wöhrhaus nicht der biologische Vater von Julian Wöhrhaus‘.
„Was sagst du dazu?“, brach ihr Gegenüber das Schweigen.
„Was soll ich dazu sagen?“, antwortete Anne. „Es stimmt! Julian ist nicht dein Sohn. Aber dir ist doch bewusst, dass dieser heimliche Test vor Gericht nicht anerkannt wird. Selbst wenn ich es jetzt zugebe, heißt das nicht, dass ich es von Anfang an gewusst und vorsätzlich gehandelt habe.“
Anne log, aber diesen Triumph wollte sie Günther nicht in Gänze auskosten lassen.
„Ich habe es schon immer geahnt, aber nie wahrhaben wollen. Wie konntest du mich so hintergehen und mir ein Kuckuckskind unterschieben?“, erwiderte Günther emotionslos.
Er ist viel zu ruhig, stellte Anne fest.
„Das hätte ich nie von dir erwartet!“, fügte Günther hinzu.
Anne zuckte mit den Schultern. Rechtfertigen wollte sie sich nicht. Eigentlich hatte sie eine heftigere Reaktion von Günther erwartet. Sein Gleichmut überraschte sie.
„Du weißt, was das bedeutet, Anne?
Punkt eins: Ich bin nicht mehr verpflichtet, Unterhalt zu zahlen, und erwarte von dir die Rückzahlung des bereits geleisteten, ebenso für jedes Lebensjahr eine Vergütung der Ausgaben, die ich für deinen Sohn gemacht |161| habe, die genaue Summe müsste ich noch ausrechnen. Falls du dem zustimmst, und die Sache geht glatt über die Bühne, sehe ich davon ab, es deinem Vorgesetzten zu melden.“
Anne schluckte. Sie bemühte sich, Fassung zu wahren. Günther erpresste sei. Wenn sie jetzt nicht darauf einging, konnte das Folgen für sie haben. Zwar keine dienstrechtlichen, aber ihre Glaubwürdigkeit wäre beim Dezernatsleiter verloren. Dazu kam noch, dass sie für die Rückzahlung ihre letzten Reserven angreifen musste. Ob Günther allerdings noch zum geleisteten Unterhalt zusätzlich für jedes Lebensjahr Geld zurückverlangen konnte, glaubte sie nicht, bestimmt gab es da Präzedenzurteile.
Günther Wöhrhaus räusperte sich.
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