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Blutklingen

Blutklingen

Titel: Blutklingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Abercrombie
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Nachttopf gebeugt auf dem Boden kniete. Sie war nackt, abgesehen von einem Stiefel und einem Hosenbein, das noch an dem dazugehörigen Knöchel hing, und ihre Rippen traten hervor, als sie heftig würgte. Ein Lichtstreifen vom Fenster fiel tastend über ein Schulterblatt, hell, ganz hell, und fand eine große Narbe, eine Verbrennung – wie ein auf dem Kopf stehender Buchstabe.
    Sie sank ein wenig zurück, wandte die in tiefen Ringen liegenden Augen zu ihm und wischte sich einen Speichelfaden aus dem Mundwinkel. »Willste noch nen Kuss?«
    Das Geräusch, das er nun hervorbrachte, war unbeschreiblich, eine Mischung aus Lachen, Rülpsen und Stöhnen. Er hätte es nicht ein zweites Mal zustande gebracht, und wenn er es ein Jahr lang probiert hätte. Aber wieso hätte er das auch tun wollen?
    »Ich brauch frische Luft.« Scheu zog sich die Hosen hoch, ließ aber den Gürtel offen, und das Kleidungsstück rutschte ihr wieder vom Hintern, als sie zum Fenster stolperte.
    »Mach das nicht.« Tempel stöhnte, aber sie war nicht zu bremsen. Jedenfalls nicht, ohne dass er sich bewegt hätte, und das war undenkbar. Sie zog die Vorhänge beiseite und stieß das Fenster auf, während er schwach versuchte, seine Augen vor dem gnadenlosen Licht zu schützen.
    Scheu fluchte, während sie unter dem Bett herumtastete. Er konnte es kaum glauben, als sie eine noch fast halb volle Flasche zutage förderte, den Korken mit den Zähnen herauszog und dann dasaß und ihren Mut zusammennahm wie eine Schwimmerin, die auf einen eisigen See hinunterstarrt.
    »Du willst doch wohl nicht …«
    Sie setzte die Flasche an den Mund und schluckte, presste sich den Handrücken gegen den Mund, und die Bauchmuskeln zuckten, dann rülpste sie, zog eine Grimasse und hielt ihm den Schnaps hin.
    »Du auch?«, fragte sie mit vom Aufstoßen belegter Stimme.
    Schon allein bei dem Anblick wurde ihm übel. »Gott, nein.«
    »Das ist das Einzige, was hilft.«
    »Heilt man eine Stichwunde etwa auch mit einer zweiten?«
    »Wenn du erst mal angefangen hast, dich selbst zu stechen, ist es manchmal schwer, damit aufzuhören.«
    Sie zog sich das Hemd über die Narbe, und nachdem sie ein paar der Knöpfe geschlossen hatte, merkte sie, dass sie die falschen Knopflöcher erwischt hatte und die Vorderfront sich beulte, gab auf und sank auf dem Bett zusammen. Tempel wusste nicht genau, ob er schon einmal jemanden gesehen hatte, der so erledigt und fertig war, noch nicht einmal, wenn er in den Spiegel guckte.
    Er überlegte, ob er etwas anziehen sollte. Einige der schlammigen Lumpen auf dem Boden wiesen eine entfernte Ähnlichkeit mit seinem neuen Anzug auf, aber er war sich nicht ganz sicher. Er war sich bei gar nichts sicher. Schließlich schaffte er es, sich aufzusetzen und die Beine über die Bettkante baumeln zu lassen. Sie fühlten sich an wie aus Blei. Als er einigermaßen darauf vertrauen konnte, dass sein Magen nicht sofort rebellieren würde, sah er Scheu an und sagte: »Du wirst sie finden, weißt du.«
    »Woher weiß ich das?«
    »Weil niemand es mehr verdient hätte, dass er einmal ein gutes Blatt bekommt.«
    »Du weißt doch gar nicht, was ich verdiene.« Sie ließ sich wieder auf die Ellenbogen sacken, und ihr Kopf sank in ihre knochigen Schultern. »Du weißt nicht, was ich gemacht habe.«
    »Kann nicht schlimmer gewesen sein als das, was du letzte Nacht mit mir gemacht hast.«
    Sie lachte nicht. Stattdessen sah sie an ihm vorüber, die Augen auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. »Mit siebzehn hab ich einen Jungen umgebracht.«
    Tempel schluckte. »Ja, gut, das ist schlimmer.«
    »Ich bin von unserem Hof abgehauen. Ich hab es da gehasst. Ich habe meine blöde Mutter gehasst. Und meinen Scheißstiefvater.«
    »Lamm?«
    »Nein, den ersten. Meine Mutter hat ein paar mehr durchgebracht. Ich hatte die idiotische Idee, ich könnte irgendwo einen Laden aufmachen. Die Sache ging gleich von Anfang an schief. Den Jungen wollte ich nicht umbringen, aber ich bekam Angst und hab einfach zugestochen.« Sie strich sich geistesabwesend mit einer Fingerspitze unter dem Kinn entlang. »Er hörte einfach nicht mehr auf zu bluten.«
    »Hatte er es verdient?«
    »Wahrscheinlich schon. So oder so, es ist eben so gekommen. Aber er hatte eine Familie, und die hat mich verfolgt, und dann bin ich geflüchtet und hatte nichts zu essen, also hab ich angefangen zu klauen.« Sie erzählte das alles mit ausdrucksloser, toter Stimme. »Irgendwann glaubte ich dann, dass man sowieso nie eine

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