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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Informationen über Bären gesammelt«, gab sie sich selbst die Antwort.
    Wie Carolyn Van Slyke mit ihrer Kamera?
    Wie Anna jetzt in diesem Moment?
    Der Wind wurde ein wenig kälter, der Gletscherkreis ein wenig einsamer. Anna wartete darauf, dass eine Wolke die Sonne verdeckte, um das Bild komplett zu machen, doch der klare Sommerhimmel verweigerte die Mitarbeit. Tief atmete sie die Luft ein, die so kühl, dünn und rein war, dass ein Mensch, der sie einsog, einfach nicht böse sein konnte. Sie starrte den von Geröll bedeckten Gletscherkreis entlang und hinüber zu dem grünen und schwarzen Gipfel des Flattop Mountain. Was um alles in der Welt konnte ein Bärenforscher so verzweifelt verbergen wollen?
    Das Puzzlespiel, das sie so angestrengt zusammengesetzt hatte, begann, in seine Bestandteile zu zerfallen. Wie, wenn überhaupt, passte Bill McCaskil mit seiner verliehenen Jacke und seiner Vorstrafe wegen Betrugs dazu? Mit Forschungsprojekten ließ sich Geld verdienen. Und wo Geld war, gab es auch Verbrecher, die es in die Finger bekommen wollten. Allerdings wurden derartige Straftaten in Büros und am Telefon verübt. Die Täter gingen nicht in den Wald, wo die Projekte stattfanden. Dort war nämlich nichts zu holen.
    Das Grübeln brachte Anna nicht weiter, und weil sie reglos im Wind herumsaß, begann sie zu frieren. Also wandte sie sich wieder ihrer Aufgabe zu. Das Gestein war so weich, dass die Krallen der Grizzlys an vielen Stellen Spuren hinterlassen hatten. In der Familie der Bären war der Grizzly am besten zum Graben ausgestattet. Die zehn Zentimeter langen Krallen waren buchstäblich unzerbrechlich, und der typische Buckel zwischen den Schultern, eine Silhouette, die Menschen ebenso ängstigte wie die Rückenflosse eines Hais, die das Wasser durchschnitt, bestand aus Muskeln und verlieh den Vorderbeinen des Bären gewaltige Kräfte. Also ausgezeichnete Voraussetzungen zum Ausbuddeln von Motten.
    Anna erkannte Reste des Pulvers im zerkratzten Geröll und die tonnenschweren Gesteinshaufen überall im Gletscherkreis. In den nächsten Stunden lernte sie viel über die Lebensgewohnheiten von Bären. Über den Menschen, der in den letzten Tagen hier gewesen war, erfuhr sie nichts und fand nicht einmal ein Kaugummipapier.
    Die blaue Stunde rückte näher. Der Nachmittagsschlaf der Bären dauerte laut Joan von dreizehn bis achtzehn Uhr. Anna wusste, dass diese Angaben nur Schätzungen waren und sich vermutlich von Bär zu Bär unterschieden. Dennoch wurde sie zunehmend nervös, als der Minutenzeiger ihrer Uhr sich von halb sechs in Richtung sechs bewegte.
    Vorhin, von ihrem erhöhten Aussichtspunkt aus, hatte sie fünf ovale Gruben entdeckt. Drei davon hatte sie sich aus der Nähe angesehen. Nun hastete sie, stets auf der Ausschau nach zurückkehrenden Essensgästen, zur vierten. Doch sie kam nie dort an. Auf halbem Wege zwischen der dritten und der vierten befand sich eine anders geformte Grube. Sie war linear. Die Steine daneben waren ordentlich aufgehäuft. Außerdem war sie nicht so tief wie die anderen, höchstens fünfzehn bis zwanzig Zentimeter.
    Die Natur mied für gewöhnlich gerade Linien. Eine Gerade war ein mathematisches Konstrukt, das man Kindern in den ungeordneten Verstand presste, bis sie als Erwachsene eine Vorliebe dafür entwickelten, in Linien schrieben, gruben und pflanzten und nach Möglichkeit den geraden Weg gingen.
    Auf allen vieren kroch Anna die ins Geröll geschnittene Gerade entlang. Die Steine waren nicht ausgegraben, sondern gelockert und umgedreht worden. Eine nähere Überprüfung ergab Spuren auf den Steinen. Keine Kratzer von Krallen mit regelmäßigen Abständen dazwischen, sondern scharfe, kantige Rillen, wie von einer Schaufel oder einer Spitzhacke. Ein Mensch, aller Wahrscheinlichkeit der, den Anna suchte, war aus demselben Grund im Gletscherkreis gewesen wie die Bären: Er hatte es auf Großkopffalter abgesehen.
    Auf den Fersen kauernd, ließ Anna den Blick den Rand der Senke entlang schweifen und hielt Ausschau nach Störenfrieden ganz gleich welcher Art. Dabei dachte sie an den seltsamen jungen Mann namens Geoffrey Mickleson-Nicholson. Am Tag vor dem Grizzlyangriff auf ihr Lager, als sie ihm begegnet waren, waren sie an einem Feld Gletscherlilien vorbeigekommen, eine andere Lieblingsspeise der Bären im Glacier. Jemand hatte sie mit einem Spaten ausgegraben. Und dieser Jemand war ganz sicher Geoffrey Soundso gewesen. Damals war es ihnen nicht wichtig erschienen. Verboten,

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