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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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und unter dem eingestürzten Haus verschwanden.
    Plötzlich veränderte sich das Bild vor ihrem geistigen Auge, und sie sah sich selbst unter dem Felsen, ihr Leben ausgelöscht, ihre eigenen Gliedmaßen verdorrt. Schließlich war das die Absicht des Unbekannten gewesen. Anna grübelte eine Weile darüber nach. Die Vorstellung kränkte sie zwar und verletzte ihre Gefühle, doch in der Abgeschiedenheit, gewärmt von der Sonne und sicher vor neugierigen Zeitgenossen, hatte sie keine Angst. Nachdem sie dem Felsen und dem Baum alle Dramatik abgerungen hatte, die sie ihr bieten konnten, ließ sie ihre Gedanken schweifen.
    Das Gebüsch am Fuße des Felsvorsprungs, das die Spalte beinahe verdeckt hatte, war entfernt worden. Die Öffnung war um einiges größer als von Anna angenommen, nämlich einige Meter hoch, zweieinhalb bis drei Meter breit und an beiden Enden schmal zulaufend. Ein hübscher Unterschlupf, um den Winter zu verbringen oder sich vor dem Arm des Gesetzes zu verstecken.
    Da es nicht Zeit für den Winterschlaf war, hatte Anna bis jetzt nicht befürchtet, in der Höhle einen Bären aufzuscheuchen. Nun fielen ihr das Muttertier und die Jungen ein, denen sie am Vortag begegnet war, und sie wünschte, sie hätte mehr über die Lebensgewohnheiten des Grizzlys gewusst. Nutzten Bären die Höhlen auch im Sommer, um ein Nickerchen zu halten? Die Blumen zu gießen? Staub zu wischen? Wenn sie sich richtig erinnerte, kehrte ein Bär zum Schlafen Winter für Winter an denselben Ort zurück, konnte sich jedoch ziemlich mühelos umstellen, falls die Höhle durch irgendeine Naturkatastrophe – Überschwemmung, Lawine, Skigebiet – unbewohnbar geworden war.
    Hier auf dem sicheren Hügel führte die Frage, ob sich möglicherweise Bären in der Gegend herumtrieben, nur dazu, dass Anna sich mit dem Hinunterklettern noch ein wenig Zeit ließ. Ihre wahre Sorge galt einem Zweibeiner. Eine Stunde verging, in der Anna nichts hörte, sah, roch oder spürte, was darauf hingewiesen hätte, dass sie nicht allein war.
    Bei einem der aus dem Rucksack gefallenen Gegenstände handelte es sich um ihre einen Liter fassende Wasserflasche aus Plastik mit breiter Öffnung. Da es auf dem Berg zunehmend wärmer wurde, wuchs Annas Interesse daran beträchtlich.
    Weil sie jedoch zu alt und zu abgebrüht war, um als Schneeweißchen oder Rosenrot durchzugehen, konnte sie nicht erwarten, dass der Bär ihr zum zweiten Mal etwas zu trinken brachte.
    Also verließ Anna kurz nach halb zehn, überzeugt, dass niemand in der Nähe war, und außerdem wieder ziemlich durstig, ihren Schlupfwinkel und kletterte, trotz des rutschigen Gerölls möglichst leise, zu der Spalte im Felsvorsprung hinunter. Dort verharrte sie wieder. Aus dem Inneren der Höhle war nichts zu hören. Auch der kühle Hauch fehlte, der für gewöhnlich aus den Eingängen großer Höhlen wehte. Demzufolge handelte es sich, wie sie vermutet hatte, um eine niedrige Grotte unter dem Felsen. Dennoch machte sie vorsichtshalber einen Bogen darum, damit ihr Schatten nicht in die Öffnung fiel, und pirschte sich zu ihrem Rucksack.
    Die Kamera war zwar noch da, doch die Filme, der belichtete sowie der unbenutzte, glänzten durch Abwesenheit. Das Gleiche galt für das Funkgerät der Nationalen Parkaufsicht, das Ruick ihr gegeben hatte. Ihre Taschenlampe hatte man zerschmettert. Die größte Enttäuschung jedoch war ihre Wasserflasche. Sie war unbeschädigt – allerdings hatte jemand den Inhalt ausgeschüttet. Der Wasserfilter war ebenso verschwunden wie die Umschläge mit den Beweisstücken. Ihr Notizbuch war noch da, aber alle beschrifteten Seiten waren herausgerissen und mitgenommen worden. Soweit sie feststellen konnte, war der Rest ihrer Habe unberührt: Landkarte, Unterwäsche, Socken und Stifte, alles vorhanden.
    Die Person, die in ihren Sachen gewühlt hatte, wollte offenbar erreichen, dass sie verschwand, und zwar ohne Beweise für ihre Beobachtungen vorlegen zu können. Die fehlenden oder zerstörten Gegenstände geboten, dass sie sich aus dem Staub machte, und zwar bald.
    Welchen Grund mochte es geben, diese Wasserflasche zu leeren, den Filter zu stehlen und sich dann die Mühe zu machen, sie aufzuspüren und ihr die andere Flasche zu bringen? Warum der Versuch, sie mit einem Felsen und einer Schusswaffe zu töten, nur um sie dann wohlbehalten die Nacht durchschlafen zu lassen? Dr. Jekyll und Mr Hyde? Oder – wie ein Werwolf – gütig und menschlich bei Tage und ein tobendes Raubtier bei

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