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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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irgendwelche Einwände dagegen hatte. Nach seiner Miene zu urteilen, hatte er offenbar das Interesse an seiner Umgebung verloren. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er alt, krank und fahl ausgesehen. Inzwischen wirkte er, als wäre er seit drei Tagen tot. Das schüttere Haar klebte ihm in fettigen, dunklen Strähnen am Schädel. Seine Haut war schlaff, und an seinem hängenden Kinn sprossen zwei Tage alte raue Bartstoppeln. Die blassblauen Augen waren gerötet, und er blinzelte ständig, als habe er Sehstörungen.
    »Warum bleiben Sie hier?«, erkundigte sich Anna spontan.
    »Ich muss«, erwiderte er in schleppendem Tonfall. »Vielleicht gibt es ja etwas …« Seine Stimme erstarb. Anna wartete ab. »Etwas, das ich tun kann«, beendete er schließlich den Satz.
    »In welcher Hinsicht?«
    Eine Minute verging. Der Funke Lebendigkeit, der ihn beseelt hatte, als er ihr Harrys Nachricht überbrachte, war wieder erloschen.
    »Ich kann nichts tun«, fuhr er so leise fort, dass Anna ihn kaum verstand. Er sprach nicht mit ihr, sondern mit sich selbst, und wiederholte zweifellos das Mantra der Hilflosigkeit, das die zweite Mrs Van Slyke so viele Jahre lang buchstäblich und tatsächlich in ihn hineingeprügelt hatte.
    Eine Weile beobachtete Anna, wie er immer grauer wurde und in sich zusammensackte. Lester war nahezu teilnahmslos. Der Mann litt an einer schweren Störung und hatte sich auf krankhafte Weise in sich zurückgezogen. Molly würde wissen, was man dagegen unternehmen konnte. Anna wünschte sich sehnlichst, ihre Schwester wäre jetzt hier gewesen, um das Kommando zu übernehmen und, wie so oft in Annas Kindheit, alle Probleme aus der Welt zu schaffen. Allerdings hätte Molly darauf bestanden, den Weg einzuschlagen, der der beste für den Patienten war. Anna wollte von Mr Van Slyke nichts als Antworten.
    Das bedeutete nicht, dass sie frei von Mitgefühl gewesen wäre, wenigstens hoffte sie das. Doch Lester hatte etwas an sich, das sie zornig machte. Sie konnte verstehen, warum sein Sohn ihn hasste, nicht die Frau, die ihn gequält hatte, denn sie sah, womit er Peiniger aller Art anzog und provozierte. Les Van Slyke war der sprichwörtliche Prügelknabe. Seine Unterwürfigkeit schien Gewalt regelrecht herauszufordern, und dass er sie klaglos hinnahm, schürte die Wut des Angreifers um so mehr. Anna schob diese unangenehmen Gedanken beiseite. Würde er sich öffnen, wenn sie ihm Freundlichkeit, Trost und Geborgenheit vermittelte? Oder war er es so gewohnt, von Frauen misshandelt zu werden, dass Anna sich wie seine geliebte verstorbene Frau würde verhalten müssen, um ihn aufzurütteln?
    Vielleicht lag es an der Furcht vor ihrer eigenen Lust, den Feigling zu treten, dass sie sich für eine gütige und entspannte Herangehensweise entschied. Um aufrichtig zu wirken, schloss sie die Augen und stellte sich vor, er wäre kein um die eigene Person kreisender, in Selbstmitleid versunkener Schatten seiner selbst, sondern ein alter Kater, so windelweich geprügelt, dass er sich kaum noch rühren konnte. Eine Katze, die so oft gepeinigt worden war, dass sie nicht einmal mehr fauchen konnte, sondern beim Anblick einer menschlichen Hand nur noch auf den nächsten Schlag wartete, in der Hoffnung, er würde sie diesmal umbringen.
    Für Tiere Anteilnahme zu empfinden war leicht. Also hielt Anna sich entschlossen das Bild vom Kater vor Augen, als sie zu sprechen begann. Sie war angenehm überrascht, dass ihre Worte ehrlich klangen.
    »Ich kann verstehen, dass Sie müde sind, Les«, begann sie. »So erschöpft, dass Sie am liebsten sterben würden. Außerdem sind Sie so allein wie schon seit Langem nicht mehr, nur dass es jetzt schlimmer ist. Alles ist schlimmer. Früher waren Sie allein und haben gelitten, aber sie war da. Sie hat Bewegung in ihr Leben gebracht, wie sie es seit dem Tod Ihrer Frau immer getan hat. Sie war hart, und sie war zornig. Doch sie lebte. Und Sie waren auch am Leben. Wenigstens ein bisschen. Jetzt ist sie fort, und Sie sind müde. Beinahe zu müde, um zu atmen.« Seit Anna zu reden angefangen hatte, hatte Les sich nicht bewegt. Nun füllten sich seine Augen mit Tränen, die ihm die Wangen hinunterliefen und sich immer wieder teilten, als sie in seine Sorgenfalten rannen. So traurig der Anblick auch war, handelte es sich zumindest um ein Lebenszeichen, sodass Anna fortfuhr, obwohl sie nicht wusste, ob dieses Experiment sich als reinigend erweisen oder auch noch die letzte tragende Wand in seinem altersschwachen

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