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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Nagellack geschmückten Zeigefinger ein paar Zentimeter vor ihre Nase.
    »Kantiger Kiefer«, fuhr Emma fort. »Gedrungen, aber nicht dick. Machte einen kräftigen Eindruck.«
    Das war in etwa die beste Personenbeschreibung, die Anna in ihren Jahren als Parkpolizistin je gehört hatte. Diese Frauen gehörten zu den seltenen Menschen, die sehr genau hinschauten.
    Sie glich die Schilderung mit ihren Erinnerungen ab und kam zu dem Schluss, dass sie offenbar dem geheimnisvollen Geoffrey Mickleson-Nicholson über den Weg gelaufen waren.
    »Hatte er eine Kette um die Taille und ein Lächeln wie Franz von Assisi?«, erkundigte sie sich.
    »Dazu wollte ich noch kommen«, erwiderte Emma im gekränkten Ton einer unterbrochenen Erzählerin.
    »Kennen Sie ihn?«, wollte die Blondine wissen.
    »Ich bin ihm einmal begegnet«, antwortete Anna.
    »Können Sie uns vielleicht erklären, warum er geweint hat? Uns wollte er es nicht sagen.«
    Das konnte Anna nicht. Kurz schoss ihr durch den Kopf, es habe ihm möglicherweise das Herz gebrochen, dass der von seiner Hand den Berg hinuntergerollte Stein sie nicht zerquetscht hatte, aber sie sprach es nicht aus. Die Geschichten, die Anna sammelte, eigneten sich nicht für gemütliche dunkle Winterabende.
    »Wie lange ist das her?«, fragte sie.
    »Ungefähr eine Stunde«, meinte Emma.
    Zu lange, um ihn zu Fuß zu verfolgen. Da Anna Filme, eine Waffe, ein Pferd, Wasser und einen besseren Plan brauchte, begleitete sie die Frauen aus Ohio zum Fifty Mountain Camp.

19
    In Fifty Mountain war es ruhig, denn es waren noch keine Neuzugänge eingetroffen, während die derzeitigen Bewohner entweder Ausflüge unternahmen oder auf dem Zeltplatz, wo es still war wie in einer Kirche, ein Nickerchen hielten.
    Annas erster Weg galt Ponce. Einer von Ruicks Männern hatte ihn gefüttert, als festgestanden hatte, dass Anna die Nacht auswärts verbringen würde. Da der Rotfuchs das Nichtstun sichtlich genoss, begrüßte er Anna überschwänglich, sodass ihr rechter Ärmel bald von der Schulter bis zum Ellenbogen mit Pferderotz bedeckt war. Doch angesichts des kläglichen Zustands, in dem sich ihr Uniformhemd befand, war ein Schleimschmierer mehr nichts weiter als ein Tropfen auf den heißen Stein. Neben dem Geländer zum Anbinden von Pferden hatte die Nationale Parkaufsicht auch einen hohen, fest im Boden verankerten Pfahl bereitgestellt, der oben mit Eisenhaken versehen war. An einem nahe gelegenen Baum lehnte eine lange, dünne, ebenfalls von einem Haken gekrönte Stange. Anna nahm sie und beförderte damit ihren Rucksack in unerreichbar luftige Höhen. Die Nationale Parkaufsicht baute diese schlichten Gerätschaften auf allen stark genutzten Zeltplätzen auf, denn wenn man Lebensmittel immer wieder und außerdem laienhaft in Bäumen versteckte, nahmen nicht nur die Bäume im Laufe der Zeit Schaden. Es führte auch allzu häufig dazu, dass die Bären dennoch in den Genuss der Leckereien kamen. Bären lernten schnell, hatten ein gutes Gedächtnis und gaben, was bei wilden Tieren selten vorkam, ihr Wissen an ihre Jungen weiter. Deshalb waren sie, wenn es ums Aufspüren von Lebensmittellagern ging, Rangern in nichts unterlegen.
    Essen, sich waschen, saubere Kleider und eine Mütze voll Schlaf in ihrem Zelt. Anna gönnte sich endlich die Dinge, die es Menschen gestatteten, zumindest den Anschein von Zivilisation zu wahren. Außerdem konnte sie ohne Funkgerät ohnehin nicht viel tun, um sich die Zeit zu vertreiben, bis Ruick sich bei ihr meldete. Wie üblich, wenn ein Parkpolizist allein zu einer fragwürdigen Mission aufbrach, hatte sie Anweisung gehabt, jeden Abend einen Funkspruch abzusetzen. Da sie das nicht getan hatte, war Ruick sicherlich auf der Suche nach ihr. Also war es das Sinnvollste, wenn sie hier blieb, wo man sie finden würde.
    Erfrischt und ausgeruht unternahm sie kurz nach fünf einen kleinen Spaziergang. Als sie an der Stelle vorbeikam, wo McCaskil gezeltet hatte, war ein junges Paar gerade dabei, sein Zelt aufzuschlagen und freundschaftlich darüber zu debattieren, in welcher Richtung es bergab ging. Wenn McCaskil nicht auf den Kopf gefallen war, würde er sicher nicht zurückkehren, sondern sich aus dem Staub machen. Er besaß ein Funkgerät, davon war Anna überzeugt. Entweder das, oder er hatte das Glück gehabt, ihr Gespräch über ihn an Lester Van Slykes Funkgerät belauschen zu können. Das war in einer aus Stoffbahnen erbauten Stadt nicht auszuschließen.
    Wenn er auch nur einen Funken

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