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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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und so. Rory sollte nichts wissen.«
    Ein Rätsel gelöst: Warum Carolyn McCaskils Jacke getragen und warum Les so seltsam herumgedruckst hatte. Allerdings beantwortete das nicht, weshalb Les geblieben war, außer er hatte geplant, sich an McCaskil zu rächen. Doch wozu die Mühe nach all den Pagen, Barmännern und Pflegern?
    »Meinen Sie, Rory könnte McCaskil und seine Stiefmutter zusammen ertappt und sie deshalb umgebracht haben?«, fragte Anna mit plötzlich barscher Stimme.
    Les fuhr zusammen, als hätte sie ihn geohrfeigt, und schlug dann beide Hände vors Gesicht. »Ja«, stieß er hervor.
    »Nun, das ist reiner Unsinn«, entgegnete Anna anteilnehmend.
    »Wirklich?« Ein dünner Hoffnungsfaden schlängelte sich durch den Morast aus Tränen in Les’ Kehle.
    Vielleicht auch nicht. Möglicherweise hatte Rory sich aus Angst vor dem Bären nach Hause zu seiner Stiefmutter geflüchtet und sie in den Armen des stumpfen Gegenstandes angetroffen, mit dem sie derzeit auf ihren Mann einprügelte. Er war ihr nachgeschlichen, hatte sie verfolgt oder sie ein paar Kilometer vom Lager weggelockt und sie getötet. Das war der plausibelste Handlungsablauf, der ihr bis jetzt eingefallen war. Er erklärte sogar McCaskils plötzliches Verschwinden. Selbst wenn er unschuldig war, denn wer würde ihm das abnehmen, nachdem er unter der Nase des Ehemannes mit der Ermordeten geschlafen hatte? So etwas geschah zwar alle Tage, und für gewöhnlich blieben die drei beteiligten Parteien am Leben, doch Geschworene hatten nun einmal eine Schwäche für den moralischen Ausgleich. Einem Mann, der so oft mit dem Gesetz in Konflikt geraten war wie Bill McCaskil, war das sicher bekannt.
    Anna behielt diese Gedanken für sich. Lester Van Slyke hatte sie in einem Punkt überzeugt: Er hatte seine Frau nicht umgebracht. Falls es gelang, ihn glauben zu machen, dass Rory auch nicht unter Verdacht stand, würde er vielleicht nach Hause fahren oder in ein Hotel ziehen. Alles war besser, als wenn er hier herumsaß und die ohnehin schon verworrenen Ermittlungen zusätzlich erschwerte.
    »Rory kann nichts passieren«, sagte Anna, weil man das eben so sagte. »Sie müssen nicht mehr hier bleiben. Morgen begleiten Sie mich ins Tal.«
    »Gut«, erwiderte Les gehorsam und teilnahmslos.
    Anna seufzte. Natürlich würde der alte Mann auf Ponce reiten, weil sie sonst den ganzen Tag für die Strecke gebraucht hätten. Also würde sie zu Fuß gehen müssen. Selbst vorgetäuschte Anteilnahme blieb nicht ungestraft.
    Trotz ihrer Müdigkeit schlief Anna schlecht. Ihre Nerven lagen derart blank, dass sie selbst das zufällige Scharren ihres Eherings am Plastikreißverschluss ihres Schlafsacks mit klopfendem Herzen hochfahren ließ. Immer noch wurde sie von dem fremdartigen und beunruhigenden Bedürfnis gequält, der Natur zu entfliehen und sich hinter vier dicken Wänden, betonierten Gehwegen und gemähten Rasenflächen zu verschanzen.
    Die Tränen vom Vorabend und der Schlaf hatten Les Van Slyke erfrischt. Er war zwar noch nicht ganz der Alte, aber wenigstens in der Lage, sich zu bewegen. Vor Sonnenaufgang brachen sie auf, und dank Lesters Funkgerät wurden sie in Packer’s Roost, das sie gegen Mittag erreichen würden, von einem Pick-up mit Pferdeanhänger erwartet.
    Harry Ruick hatte bis halb vier Sitzungen. Anna genoss diesen Aufschub in Joans Haus, wo sie badete, sich parfümierte, für das Herumstreifen in der Natur ungeeignete Kleidung anzog und sich anderweitig gegen die Wildnis absicherte; banale und beschwichtigende Kleinigkeiten, die man früher als »sich verwöhnen« bezeichnet hatte und seit den Neunzigern »Achtsamkeit« nannte.
    Falls Ruick es bemerkt haben sollte, dass Anna besser aussah und roch als bei ihrer letzten Begegnung, war er zu sehr Profi, um sich dazu zu äußern. Anna saß in einem verhältnismäßig bequemen Sessel in seinem Büro, ließ sich von der warmen Nachmittagssonne ein Viereck auf die Knie malen und erstattete Bericht. Sie beschrieb die Großkopffalterausgrabungen, durchgeführt nicht mit Krallen, sondern mit einem Spaten, die Höhle, den Felsen und den Schuss. Sie schilderte die bis auf das Wachs auf dem Sims gesäuberte Höhle, die halbe Erdnuss, die Münze und das im Staub übersehene Stück Hundekuchen. Die Sache mit der von spitzen Zähnen durchbohrten Wasserflasche, die ihr jemand hingestellt hatte, sparte sie für den Schluss auf. Polizisten hatten nicht viel für Märchen übrig, und leitende Ermittler mochten keine

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