Blutköder
Verstand hatte, war er längst aus dem Park verschwunden. Außer er hatte hier noch etwas zu erledigen. Allerdings konnte Anna sich nicht vorstellen, was das hätte sein sollen. Felsbrocken auf sie zu wälzen? Das klang nur wenig plausibel. Anna hielt es für ausgeschlossen, dass McCaskil nach Motten grub oder Gletscherlilien ausbuddelte. Außerdem wusste sie, dass er nicht der Bewohner der Höhle gewesen sein konnte, denn er hatte jede Nacht bis auf eine in Fifty Mountain verbracht.
Die Jacke und die Karte stellten einen Zusammenhang zwischen McCaskil und Carolyn her. Auch zwischen Carolyn und dem blauen Stoffsack gab es eine Verbindung, und zwar aufgrund des Blutes und der räumlichen Nähe. Der geheimnisvolle Geoffrey Mickleson-Nicholson musste wegen der Motten und der Gletscherlilien etwas mit dem blauen Sack zu tun haben. Allerdings war dieser blaue Stoffsack das Einzige, was Geoffrey mit Carolyn verknüpfte. Wer zum Teufel war dieser Junge mit der Kette um die Taille, der weinte und in der Erde herumwühlte und der sich Annas Vermutung nach im Hochland in einer Höhle verschanzte wie ein Bär, der sich in der Jahreszeit geirrt hatte?
Da Anna unzählige Fragen auf der Zunge lagen und sie Lust hatte, jemandem zuzusetzen, marschierte sie den sanft geschwungenen Abhang hinauf und vorbei an Zeltplätzen auf schwarzem Boden und toten Bäumen, bis sie den obersten erreicht hatte. Hier war das Feuer einfach von selbst erloschen, häufig mitten in einem Baum, sodass die eine Hälfte verkohlt und halb abgestorben war, während die andere halbherzig grüne Nadeln der Sonne entgegenstreckte.
Lester war zu Hause. Die Ellbogen auf die Knie gestützt und mit hängenden Händen saß er reglos auf einem Felsen. Es kam so selten vor, dass Menschen wirklich überhaupt nichts taten, dass der Anblick etwas Lebloses an sich hatte. So erging es zumindest Anna, als sie sich näherte. »Hallo«, sagte sie, denn sie hatte das Gefühl, sich ankündigen zu müssen, obwohl sie kaum zwei Meter voneinander trennten.
Langsam wie ein Mann in Trance drehte er sich zu ihr um. Sein Blick war leer, als wisse er nicht, wo er sich befand. »Ich bin es, Anna Pigeon«, fügte sie hinzu, worauf sich ein Anflug von Lebendigkeit auf seinem Gesicht abzeichnete.
»Ja. Ich habe Sie erwartet.«
Aus Gründen, die sie sich selbst nicht erklären konnte, ließen diese Worte Anna einen Schauder den Rücken hinunterlaufen – so als hätte Gevatter Tod ihren Namen gerufen. Als Les sich bewegte, legte sich das Gefühl. »Mr Ruick hat mich gebeten, hier zu warten und Ihnen auszurichten, dass Sie ihn anfunken sollen, sobald Sie zurück sind.« Er bückte sich und hob das Funkgerät auf, das zu seinen Füßen am Felsen lehnte.
Anna nahm es und meldete sich bei Ruick. »Ist Buck wieder bei Joan?«, lautete ihre erste Frage. Als Ruick das bestätigte, erklärte sie ihm in ihrer Erleichterung, welche Sorgen sie sich gemacht hatte.
»Warum haben Sie mich gestern Abend nicht angefunkt?«, erkundigte er sich.
»Ich habe mein Funkgerät verloren.« Schweigen herrschte im Äther, da er offenbar annahm, dass sie die Umstände genauer ausführen würde. Doch sie tat es nicht. Funkgeräte waren nicht sicher. »Ich muss persönlich mit Ihnen sprechen«, sagte sie stattdessen.
Entweder verstand Ruick, warum sie zögerte, oder er wollte ihr einen Gefallen tun, denn er hakte nicht weiter nach. »Wir sind nicht mehr im Hinterland. Wir sind umgekehrt. Kommen Sie ins Tal«, befahl er. »Wenn Sie da sind, rufen Sie mich an.«
Es würde noch ein paar Stunden hell sein. Auf Ponces Rücken hätte Anna es bis kurz nach Einbruch der Dunkelheit ins Tal geschafft. Doch angesichts ihrer Erschöpfung und der Abenteuer der letzten Nächte hatte sie nur wenig Lust, so spät allein durch die Landschaft zu reiten. »Gleich morgen früh«, versprach sie, auch wenn ihr nicht wohl dabei war, selbst diese Kleinigkeit in Sachen Reisepläne möglichen Lauschern preiszugeben. Zu gerne hätte sie Ruick gefragt, ob sie bei ihrer Suche nach William McCaskil irgendwelche neuen Erkenntnisse gewonnen hatten, aber sie verkniff es sich. Falls sie ihn gefunden hätten, hätte Harry es sicher erwähnt. Also konnte Anna nur annehmen, dass die Aktion entweder abgeblasen worden war oder den Suchtrupp veranlasst hatte, dem Hochland den Rücken zu kehren.
Nachdem der Funkspruch abgehakt war, setzte Anna sich neben Lester Van Slyke auf den Boden. Das Funkgerät behielt sie. Er ließ sich nicht anmerken, ob er
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