Blutköder
Gehirn niederreißen würde. Praktizieren ohne Zulassung, dachte Anna. Sie sprach leise, monoton und in einem möglichst hypnotischen Tonfall, wobei sie sich Mühe gab, nicht aufgesetzt zu klingen. Ihre Absicht war, dass er für eine Weile den Verstand ausschaltete, nur zuhörte und ihr folgte.
»Ohne sie ist das absolute Chaos ausgebrochen. Sie haben keine Ahnung, wie man es richtig macht. Das konnten Sie noch nie, nicht seit dem Tod Ihrer ersten Frau. Wenigstens hat Carolyn dafür gesorgt, dass Dinge Wirklichkeit wurden. Dass sie geschahen, richtig?«, wagte Anna eine kleine Frage.
Als Les nickte, fuhr sie zufrieden fort, ihm eine innere Landschaft auszumalen. Dabei überlegte sie, wie sie ihr angestrebtes Ziel erreichen sollte.
»Jetzt sind Sie müde, und Sie haben Angst. Sie haben Angst vor dem, was Sie getan haben …«
Les’ Hände, die bis jetzt wie welkes Laub zwischen seinen Knien gehangen hatten, zuckten. Anna hatte einen Fehler gemacht, und der Schreck drohte, ihn aus seiner Trance zu reißen.
»Sie haben Angst vor dem, was Sie Rory angetan haben«, verbesserte sie sich. Das Zucken hörte auf. Also Rory. Anna verfolgte die Strategie weiter. »All die Jahre hat Rory seine Stiefmutter geliebt, nicht Sie. Woher wussten Sie, dass er es wusste? Die Schläge haben Sie seinetwegen erduldet, oder?«, hakte Anna nach, denn plötzlich wurde ihr klar, dass Les’ Wahrheit so aussah. »Sie haben die Prügel ausgehalten, um Ihre Ehe zu retten, weil Rory eine Mutter brauchte und Sie verhindern wollten, dass er das zweite Mal eine verliert.«
Die Tränen strömten heftiger. Les nickte wieder, und ein klägliches Wimmern stieg aus einer tiefen Quelle von Gefühlen auf, die Annas Vermutung nach kräftig mit Neurosen in Form von Märtyrertum, Genießen der Opferrolle, Größenwahn und anderen verführerischen Scheußlichkeiten versetzt war.
Verzweifelt zermarterte sie sich das Gehirn. Aus unerklärlichen und krankhaften Gründen hatte Les sich von Carolyn misshandeln lassen. Um weiter in den Spiegel schauen zu können, hatte er sich eingeredet, dass er es seinem Sohn zuliebe tat. Nun machte er sich weis, er bliebe im Glacier-Nationalpark, nicht etwa weil er Angst um sich selbst hatte, sondern um seinen Sohn. Bedeutete das, dass Les Rory des Mordes an Carolyn verdächtigte und hoffte, »etwas tun« zu können, indem er hier verharrte, die Ermittlungen behinderte oder Beweismittel manipulierte? Oder dass er sie selbst getötet hatte und sich durch Sabotage retten wollte, damit Rory seinen Vater behielt?
Anna konnte es nicht sagen. Allerdings wagte sie nicht, zu lange zu schweigen. Falls die Tränen ein Hinweis waren, glaubte ihr Les, solange er sie sprechen hörte, als kenne sie seine innersten Geheimnisse und sei in gewisser Weise seine Stimme. Wenn sie jetzt einen Fehler machte, würde er ihr entgleiten.
Also pirschte sie sich vorsichtig aus einer anderen Richtung an. »Sie wussten in der fraglichen Nacht, dass Carolyn fort war«, meinte sie. »Sie haben bemerkt, wie sie das Zelt verließ.«
»Ja«, murmelte Les. »Aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Sie ging öfter nachts weg. Sie …«
»Sie ist also weggegangen«, wiederholte Anna.
»Sie hat sich mit Männern getroffen«, fügte Les hinzu.
Anna fiel es wie Schuppen von den Augen. »Sie hat sich mit Männern getroffen«, sagte sie. »Und sie hat Sachen von ihnen mitgenommen, richtig? Sie hat sich Kleidungsstücke von ihnen geliehen, damit Sie sie finden, um es Ihnen unter die Nase zu reiben. Zum Beispiel die Militärjacke, die sie anhatte.«
»Sie wollte mich kränken«, erwiderte Les. »Ich habe mir zwar nichts anmerken lassen, doch es hat wehgetan. Und zwar sehr.« Wieder Tränen.
»Haben Sie deshalb vorgegeben, keine Ahnung zu haben, woher die Jacke kam? Haben Sie gedacht, sie sei bei Bill McCaskil gewesen? Kannte sie ihn von früher? War sie ihm irgendwo begegnet? In einem Internet-Chatroom? Einem Gerichtssaal? Bei einem Kongress? Sonst irgendwo?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Sie hat ihn einfach so am Lagerfeuer getroffen und ist gleich mit ihm in die Kiste gesprungen?«, erkundigte Anna sich zweifelnd.
»Sie kannten sie nicht. Bei ihr dauerte es nicht lang. Wer, war ihr egal. Wenn wir in Hotels übernachteten, ließ sie sich mit den Pagen ein. Oder mit dem Barmann. Als ich im Krankenhaus lag, hat sie sich an meinen Pfleger herangemacht. Einen Jungen, etwa so alt, wie Rory heute ist. Ich wollte verhindern, dass Rory davon erfährt. Die Jacke
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