Blutköder
aufseufzten.
Nach einer weiteren halben Stunde wurde Anna unruhig. Joan, die schon zahlreiche Stunden damit verbracht hatte, in unbequemer Körperhaltung die Landschaft zu betrachten, hatte mühelos in den Forschermodus umgeschaltet und rührte sich nicht. Wäre da nicht die langsame Bewegung ihres Fernglases gewesen, als sie mit Blicken das Gelände absuchte, Anna hätte vermutet, dass sie eingeschlafen war.
Zehn Minuten vor Sonnenuntergang, die Winde, die als nächtlicher Atem der Berge die Schlucht hinunterwehten, strichen Anna kühl über den Nacken, flüsterte Joan ein Gebet.
»Ach, du gütiger Himmel«, sagte sie. »Er ist göttlich. Ich muss mich beim Labor der University of Idaho entschuldigen.«
»Wo?«, fragte Anna. »Wo?«
»Pssst. Da. Zwanzig Grad West vom letzten Baum aus. Er nähert sich. Rory!«, zischte sie. »Wach auf, komm her, und bring dein Fernglas mit.«
Anna beobachtete den mit Heidelbeeren überwucherten Berghang, konnte aber zunächst nichts erkennen. Und plötzlich war er da. Auf den Hinterbeinen stehend, war er mindestens drei Meter groß und gewiss sechshundert Kilo schwer und hatte ein unglaublich goldfarbenes Fell. Die Strahlen der untergehenden Sonne trafen ihn von der Seite, sodass das Licht sich wie Feuer in seinem Pelz fing und in lodernden Flammen über die hellen Grannenhaare auf seinem Buckel und den Ohrspitzen glitt. »Ach, herrje«, hauchte Anna. »Boone und Crockett, sterbt vor Neid.«
»Siehst du ihn?«, flüsterte Joan Rory zu, der zu ihnen hinübergerobbt war. »Ein Alaska-Grizzly.«
Das prachtvolle Tier befand sich keine zwanzig Meter von ihnen entfernt. Der Bär hatte von den Heidelbeeren gefressen, die in einer flachen Rinne am Abhang wucherten. Sie war zwar nicht sehr tief, hatte aber genügt, um ihn zu verstecken, bis er sich aufgerichtet hatte.
»Ich sehe ihn!«, rief Rory plötzlich aufgeregt aus.
»Pssst!«, zischte Joan, aber es war zu spät. Der gewaltige goldfarbene Schädel drehte sich in ihre Richtung. Die Nüstern blähten sich, und die riesigen Tatzen zuckten. Selbst aus dieser Distanz erkannte Anna die Krallen, acht Zentimeter lange Nägel, die sich mattweiß von dem einen Ton dunkleren Fell am Bauch des Tieres abhoben.
Braune Augen musterten die drei und trafen Annas Blick. Dann wandte sich der Bär ab und knurrte wie verunsichert. Als die mächtigen Vorderbeine schwangen, spielten die unglaublich kräftigen Muskeln geschmeidig unter der von der Sonne beschienenen Haut.
Der Schwarzbär, die Bärin, ja, sogar das Junge, hörten auf zu fressen. Der Schwarzbär keuchte und schnaubte wie ein aufgebrachtes Schwein. Einen Moment wirkte es, als würde er sich der Herausforderung stellen. Dann beschloss er offenbar, lieber doch nicht den Helden zu spielen, trollte sich und verschwand rasch im dichten Unterholz.
Das Bärenjunge sprang aufgeregt quiekend hin und her, was ihm einen strengen Klaps von seiner Mutter einbrachte. Es kehrte wieder Stille ein, diesmal nicht durchbrochen vom Schmatzen fressender Tiere. Auch nicht vom Luftholen. Als Anna das bemerkte, hörte sie auf, den Atem anzuhalten.
Knack. Knack.
Obwohl die Geräuschquelle nicht in ihrer Nähe war, trug die reglose Luft den Laut heran. Ein Knacken brechender Zweige oder von Holz auf Holz. Das Geräusch, das Anna in der Nacht des Bärenangriffs auf ihr Lager gehört hatte. Und auch in der Nacht, in der sie geträumt hatte, ein Bär belauere ihr Versteck in der Felsspalte auf dem Cathedral Peak.
Knack.
Der große goldene Bär schaute zurück zu Annas Felsen und brüllte. Es war ein ohrenbetäubendes, schreckliches Geräusch, das das Fell auf seiner Brust erzittern ließ. Dabei fletschte er Zähne, die im Schein der untergehenden Sonne blutrot schimmerten.
»Verschwinde«, sagte Anna leise.
»Anna …«, flüsterte Joan.
»Verschwinde, verdammt! Nimm Rory mit.« Anna konnte den Blick nicht von dem Bären abwenden. Hinter sich hörte sie ein hastiges Scharren, als Joan und Rory den Felsen hinunter und aus dem Gesichtsfeld des Bären rutschten. Anna bezweifelte, dass Joan wegen ihres barschen Befehls die Flucht ergriffen hatte. Sicher wollte Rand den Jungen retten. Da Rory ohnehin Angst vor Bären hatte, würde eine Konfrontation mit einem Tier von dieser Größe ihn wahrscheinlich um den Verstand bringen.
»Sorg dafür, dass er nicht rennt«, raunte Anna. Es spielte keine Rolle, dass Joan sie nicht hören konnte. Joan kannte sich besser mit Bären aus, als Anna es je tun würde. Die
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