Blutköder
einzige Erfahrung, die sie ihr vermutlich bald voraushaben würde, war, wie es sich anfühlte, von einem aufgefressen zu werden.
Knack.
Wieder brüllte der Bär und ließ sich auf alle viere fallen. Dabei fixierte er Anna weiter mit den Augen.
Kurz fragte sie sich, ob es klug von ihr gewesen war, Rory und Joan wegzuschicken. Bären stürzten sich nur ungern auf Gruppen. Es hatte zwar Zwischenfälle gegeben, bei denen Grizzlys drei oder vier Menschen gleichzeitig angegangen waren. Allerdings kam das seltener vor als Übergriffe auf Einzelpersonen.
Nur, dass das hier kein gewöhnlicher Bär war. Joan wusste oder spürte das auch. Deshalb war sie geflohen.
Einen Moment verharrte der Bär. Seine riesigen goldenen Tatzen drückten das Gras platt, und der gewaltige Schädel schwang hin und her, während in seinem winzigen Bärengehirn winzige Bärengedanken Gestalt annahmen. Anna hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich so klein und wenig bedrohlich oder so groß und abschreckend wie möglich gebärden sollte. Doch sie hatte den Eindruck, dass es diesen Bären einen feuchten Kehricht interessieren würde, was sie tat. Das Bedürfnis loszurennen brachte ihre Beine zum Zittern. Anna achtete nicht darauf. Nicht aus Tapferkeit, sondern weil ihr die Vorstellung, der Bär könnte sie von hinten anspringen, zu große Angst machte.
Vorsichtig nahm sie die Dose mit dem Pfefferspray vom Gürtel. Hinter ihr ertönte ein Rascheln, dann ein Plumps. Entweder Rory oder Joan, die wie ein japanisches Mädchen in einem Horrorfilm auf der Flucht vor dem Ungeheuer gestolpert und gestürzt waren.
Der riesige Bär hatte es auch bemerkt. Sein Kopf hörte auf zu schwanken, und ein Gebrüll baute sich in seiner breiten Brust auf, während sein Blick zur linken Seite von Annas Felsen wanderte. Anna sprang auf und begann, die Arme über dem Kopf zu schwenken. Also hatte sie sich für die Version »groß und abschreckend« entschieden, auch wenn sie sich mit ihren einssechzig Körpergröße und sechzig Kilo Lebendgewicht ziemlich unterlegen fühlte.
»Hallo, Bär! Hallo, Bär!«, rief sie.
Knack. Knack. Knack. Ein leiser Pfiff.
Der Grizzly griff an. Nie hätte Anna gedacht, dass sich ein Tier von dieser Größe so schnell bewegen konnte. Die Sonne verfärbte sein Haarkleid rot, und das Fell schlug Wellen, als er näherkam. Es glänzte wunderschön wie bei einem gut gepflegten Golden Retriever. So gebannt war Anna von seiner unbeschreiblichen Schönheit, dass sie kurz vergaß, Angst zu haben, sich zur Seite zu drehen und dem Tier nicht in die Augen zu schauen. Sie vergaß sogar das Pfefferspray in ihrer rechten Hand.
Der Bär stürmte auf sie zu. Seine kräftigen Beine überwanden geschmeidig und anmutig den unebenen Boden. Inzwischen brüllte er nicht mehr. Sein ganzes Interesse galt Anna. Sie hörte seinen keuchenden Atem. Er war gewaltig. Obwohl sie höher stand als er, überragte er sie.
»Nicht rennen, nicht rennen«, sagte sie sich immer wieder, während sie die Sprühdose hob. Eine Fliegenklatsche gegen eine Lawine.
Ein Schrei drang an ihr Ohr. Nicht ihr eigener. Die schrille Stimme ließ den Bären zusammenzucken.
»Lassen Sie das Pfefferspray fallen. Mein Gott. Bitte.«
Anna kannte diese Stimme. Glaube, nicht Vertrauen, öffnete Anna die Finger, und das Pfefferspray fiel zu Boden. Anna folgte seinem Beispiel, rollte sich zusammen wie ein Pillendreherkäfer, bedeckte die Ohren mit den Armen, verschränkte die Hände im Genick und zog die Knie hoch, um empfindliche Körperstellen zu schützen. So war sie auf die Welt gekommen. Sollte sie sie auch so verlassen?
Ein Schlag, der sie beinahe aus ihrer zusammengekrümmten Haltung riss, traf sie an der Schulter, und sie spürte, wie sie den Felsen hinuntergestoßen wurde wie ein Hockeypuck auf rissigem Eis. Ihre Kniescheibe traf auf Stein. Anna nahm nur den Aufprall wahr. Die Schmerzen würden später kommen.
Druck. Der Bär hatte sich auf sie geworfen. Das Gewicht seiner Brust presste sich an ihre Seite. Erstaunlich weiches Fell berührte ihre nackten Beine. Gewaltige Arme umfingen sie, als der Bär versuchte, sie zu zermalmen oder herumzudrehen. Ihr Gesicht war in sein Fell vergraben. Hitze, Gerüche und Pelz hüllten sie erstickend ein. Der Bär vereinnahmte sie und drückte sie in sich hinein. Ein kräftiger, heißer Atem, der nach Heidelbeeren und weniger angenehmen Dingen roch, schlug ihr ins Gesicht. Wie ein Kind kniff Anna die
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