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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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atmete, spielte keine Rolle. Wenn sie recht hatte, ein wertvolles Leben retten und außerdem einen Anblick genießen wollte, den zu verpassen sie sich niemals verziehen hätte, drängte die Zeit.
    Ein Grunzen und Schluckgeräusche verrieten ihr, dass Rory seinen Rucksack an den Felsen gelehnt und seine Wasserflasche herausgeholt hatte. Joan kam zu Anna hinüber und stützte wie sie mit gekrümmtem Rücken die Ellbogen auf einige höhere Steine. Das runde Gesicht der Forscherin war besorgniserregend gerötet. Die Haare, die unter ihrer Baseballkappe hervorlugten, klebten ihr schweißnass an den Wangen, und am oberen Teil ihrer riesigen Brillengläser perlte Feuchtigkeit. »Hast du etwas gesehen?«, lauteten Joans erste Worte, die sie sichtlich Mühe kosteten.
    »Noch nicht. Erzähl mir noch einmal von den E-Mails«, erwiderte Anna.
    »Okay. Gut. Lass mich überlegen.« Luft holen hätte es wohl besser getroffen. Anna wartete ab, bis Joan sich wieder gefasst und sich einen wissenschaftlich fundierten Gedankengang zurechtgelegt hatte.
    »Die erste Mail kam vor etwa sechs Wochen. Vielleicht ist es ja auch schon länger her. Der Benutzername lautet Balthazar. Er schrieb, er sei Schüler an einer Highschool und arbeite an einem Forschungsprojekt über Grizzlybären. Deshalb wolle er etwas über ihre Wanderwege, ihre Winterschlafgewohnheiten, ihre Ernährung und darüber wissen, ob sie im Glacier-Nationalpark geschützt seien oder ob wir die Jagd erlaubten. Da ich in ihm einen Bewunderer gesehen habe, habe ich ihm natürlich nur zu gern geantwortet.«
    »Verständlich.« Anna holte ihr Fernglas heraus. Oberhalb des kleinen Sees war die Landschaft hügelig und mit dichtem Unterholz bewachsen. In Wassernähe wurde das Gebüsch spärlicher, sodass eine kleine natürliche Wiese entstand. Der Fichtenwald am Hang war nicht sehr beeindruckend, denn die Bäume standen zehn bis fünfzehn Meter auseinander.
    »Und hast du dich je vergewissert, ob dieser Balthazar wirklich Schüler ist und nicht einfach nur irgendein Typ?«
    »Vielleicht ist er nicht mehr auf der Highschool, aber noch recht jung. Er hat nie Anstalten gemacht, mich mit seinem Wissen zu beeindrucken. Und das wird mit wachsendem Bildungsstand immer unwiderstehlicher.«
    »Vor sechs bis acht Wochen also«, sagte Anna ebenso zu sich selbst wie zu Joan. »Etwa um diese Zeit hat Woody Fetterman den Löffel abgegeben.«
    »Es kamen noch einige weitere E-Mails mit ähnlichem Inhalt«, fuhr Joan fort. »Gegen Ende Juli. Dann herrschte ungefähr eine Woche lang Funkstille. Und zu guter Letzt hatte er die Idee mit der Karte. Die Fragen wurden sehr detailliert. Wo die Bären fressen und wann.«
    »Das war, als wir gepackt haben, um auf unsere erste Runde zu den DNA -Fallen aufzubrechen. Und als der verlassene Pick-up mit dem Pferdetransporter gefunden wurde«, ergänzte Anna.
    »Ja. Soweit ich feststellen kann, schon.«
    »Und du hast ihm was genau gesagt?«
    »Verbranntes Gebiet auf dem Flattop, Gletscherlilien.«
    »Und als wir mit der Ermordeten ins Tal kamen, hattest du wieder Post.«
    »Ich habe ihm ›Cathedral Peak und Großkopffalter‹ geschrieben. Etwa eine Woche später ›Westseite des Flattop und Heidelbeeren‹.«
    Rory gesellte sich zu ihnen. »Glaubt ihr, irgendein Typ will einen Bären einfangen? Für den Zirkus oder so?«
    »Nicht unbedingt«, erwiderte Anna.
    Rory unternahm immer wieder kleine Ausflüge oder hielt in der Abendsonne ein Nickerchen. Währenddessen blieben Anna und Joan vor Ort und suchten mit dem Fernglas den Berghang ab.
    Plötzlich stieß Joan Anna an und zeigte mit dem Finger. Ein Schwarzbär, fast so groß wie ein Grizzly, trottete aus dem Gebüsch unterhalb der Lichtung. Mit dem Fernglas konnte Anna sehen, wie sich seine Nüstern blähten, als er die Witterung einer möglichen Gefahr aufzunehmen versuchte. Das Glück und weise Voraussicht wollten es, dass sie sich gegen den Wind aufhielten und, in gedeckte Farben gekleidet und flach auf dem Felsen liegend, das Tier deshalb unbemerkt beobachten konnten.
    Eine Viertelstunde später kam eine kleine Grizzlybärin, wahrscheinlich keine einhundertfünfzig Kilo schwer, vom Berg herab. Sie war dunkelbraun, ähnlich dem Schwarzbären, der wie viele seiner Artgenossen die Farbe nur im Namen trug. Sie wurde von einem in diesem Jahr geborenen Jungtier begleitet. Das Junge lief hinter ihr her und zupfte an ihren Knöcheln und schnappte danach. Anna musste schmunzeln, als sie und Joan gleichzeitig leise

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