Blutköder
Augen zu. »Geh weg, bitte geh weg«, flüsterte sie.
Knack.
Das Gewicht ließ nach. Der Bär stieß ein tiefes fragendes Knurren aus. Dann brüllte er, und wieder fiel ein Schlag. Diesmal konnte Anna die Kauerstellung nicht halten. Ihre Beine streckten sich, ihr Kopf wurde zurückgerissen, und sie rollte den felsigen Hügel hinunter. Als ihr Kopf gegen einen Stein stieß, schrie sie auf. Sie sah, wie Bär und Dunkelheit sich gleichzeitig auf sie herabsenkten.
Anna hatte nicht damit gerechnet, wieder aufzuwachen. Oder falls doch, dann so wie Jonas im Bauch des Ungetüms. Anfangs hatte sie ein Gefühl, als kröche ihr Verstand aus einem Gebiet herbei, das viel weiter entfernt war als Schlaf. Sie wusste, dass sie Durst hatte und fror. Als sie die Augen aufschlug, erkannte sie, dass sie entweder blind geworden war oder sich an einem Ort befand, wo die Fähigkeit zu sehen keine Rolle spielte. Außerhalb ihres Schädels war es so dunkel wie innen.
Die Sache war nicht, dass Anna ihre Situation gleichgültig gewesen wäre. Sie konnte nur nicht denken, weshalb die Angst ausblieb. Während sie so in der Finsternis verharrte, bemerkte sie, dass sie noch atmete. Dieses Bruchstück irdischer Information führte zu der Vermutung, dass sie die Welt, die sie kannte, offenbar doch nicht verlassen hatte. Im Himmel, in der Hölle, im Fegefeuer, in der Walhalla oder wo auch immer war eine ständige Lungentätigkeit sicherlich überflüssig.
Als Nächstes nahm sie Formen wahr. Schatten der Nacht. Sie lag auf der Seite auf einer steinigen, von einer Lawine freigelegten Stelle, etwa sieben Meter entfernt von dem Felsen, wo sie, Rory und Joan Beobachtungsposten bezogen hatten. Es war Nacht geworden. Falls der Mond schon aufgegangen war, wurde er von Dunst verschleiert. Nur das schwache Licht der Sterne trennte Erde und Himmel.
Die Verwirrung, ausgelöst von einem Schlag auf den Kopf und dem Aufwachen in der Finsternis, war zwar heftig, jedoch nicht von Dauer. Im nächsten Moment waren Zeit, Ort und Umstände wieder präsent. Anscheinend hatte der Bär sie für tot gehalten. Vielleicht hatte es ihr ja das Leben gerettet, dass sie sich den Kopf an einem Stein angestoßen und das Bewusstsein verloren hatte. Ein Schwarzbär, also ein Bär, der nicht angriff, um abzuschrecken und einzuschüchtern, sondern um sich zu einem Abendessen zu verhelfen, hätte sich ein paar Pfund Fleisch geholt. Der Grizzly hatte sie, wohl überzeugt, dass sie keine Bedrohung mehr darstellte, nicht angerührt.
Allerdings war sie ziemlich mitgenommen. So verstohlen wie möglich – nur für den Fall, dass sich der Bär doch nicht getrollt hatte – untersuchte Anna die Schäden. Keine Kratzer oder Bisswunden. Überhaupt keine. Das war eine Überraschung. Da sie arg gebeutelt worden war, hatte sie eigentlich mit Verletzungen gerechnet. Aber sie konnte nur hinter dem linken Ohr, wo sie mit dem Felsen in Konflikt geraten war, Blut entdecken. Ihre heftigen Kopfschmerzen wurden noch von denen in ihrem Knie übertroffen. Als sie sich auf alle viere wälzte und versuchte, sich hochzustemmen, hätte sie beinahe aufgeschrien. Im Stehen war es ein wenig besser, und sie erkannte, dass sie das Knie belasten konnte, auch wenn es wehtat. Also war das Gelenk nicht beschädigt. Allerdings war die Kniescheibe entweder angebrochen oder stark geprellt.
Warum hatte der Bär sie weder gekratzt noch gebissen? Immerhin lag es in der Natur dieser Tiere, ihre Krallen und Zähne einzusetzen, Wunden zu reißen und die Fänge in ihre Opfer zu schlagen. Das Letzte, woran Anna sich erinnerte, bevor der Bär sie den Hügel hinuntergerollt hatte wie einen Igel, war das pelzige und überwältigende Gefühl, dass das Tier sie hatte umarmen wollen.
Igel … wie war noch einmal der Wortlaut des in lavendelfarbener Tinte geschriebenen Berichts? Verhalten des Bären: jonglieren mit etwas, das wie ein Igel aussah. Verhalten des Beobachters: staunend dastehen.
Anna war herumgestoßen, hin und her geworfen und liegen gelassen worden, war jedoch bis auf die Folgen eines Unfalls völlig unverletzt.
Lebendig, unversehrt und staunend, dachte Anna und hinkte zu einem Stein, um sich mit ausgestrecktem Knie darauf zu setzen. Die Lichtung war leer. Keine Spur von den heidelbeerenfressenden Bären. Und auch keine Spur von Rory und Joan. Anna sah auf die Uhr. Sie war nicht lange bewusstlos gewesen. Vielleicht gute zwanzig Minuten. Weitere zehn hatte sie dazu gebraucht, sich wieder zu sammeln. Wo zum Teufel
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