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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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war Joan? Warum war sie nicht zurückgekommen, um nachzusehen, ob Anna noch lebte?
    Weil sie Kopfschmerzen hatte und von einem gewaltigen Bären in den Staub geschleudert worden war, versuchte Anna, sich vorzustellen, dass Joan sie im Stich gelassen und sich zum West Flattop Trail geflüchtet hatte, um ihre Haut zu retten.
    Doch diese Version der Dinge wollte nicht aufgehen. Es hätte nicht zu einer herzensguten Frau wie Joan gepasst, sich nicht um den Tod eines anderen Menschen zu scheren. Genauso wenig hätte es zu einer ausgezeichneten Wissenschaftlerin wie Joan gepasst, einem wundervollen, eigentlich nicht hier heimischen goldenen Alaska-Grizzlybären einfach den Rücken zu kehren, ohne ihn zu fotografieren, Kotproben zu nehmen und ihn mit geschultem Blick zu beobachten.
    Also war Joan irgendwo in der Nähe. Wenn sie nicht zurückgekehrt war, hieß das also, dass sie es nicht konnte. Ein widerwärtig flaues Gefühl stieg in Anna hoch, als sie sich fragte, ob Joan sich möglicherweise zu früh hierher gewagt hatte. Hatte der Bär Anna wegen eines lebhafteren Opfers verschont?
    Sie öffnete den Mund, um nach ihr zu rufen, überlegte es sich aber anders und schloss ihn wieder. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt zum Durchdrehen. Nachdem sie einige Minuten lang umhergehinkt war und herumgetastet hatte, hatte sie ihren Rucksack gefunden. Sie führte eine Bestandsaufnahme durch. Ein paar Lebensmittel. Genug Wasser. Bolzenschneider, Hämmer, Heftklammern, ein kleiner Hartschalenbehälter, der den letzten Kanister Stinktier-Liebesduft enthielt, und eine abgegriffene topografische Karte. Da geplant gewesen war, vor Einbruch der Dunkelheit wieder im Lager zu sein, hatte sie keine Taschenlampe eingesteckt. Joan hatte das Funkgerät. Außerdem konnte Anna das fallen gelassene Pfefferspray nicht finden, so sehr sie auch danach fahndete.
    Anna fühlte sich wehrlos und ohnmächtig, als sie sich wieder auf den Felsen setzte. Es wurde kälter. Aus demselben Grund wie auf die Taschenlampe hatte sie auch auf eine Jacke verzichtet. Der Wahlspruch der Pfadfinder fiel ihr ein. Eine Lektion gelernt. Wieder einmal. Auf die harte Tour.
    Ohne Taschenlampe konnte sie sich nicht auf die Suche nach Joan machen, und um Hilfe zu holen, hätte sie ein Funkgerät gebraucht. Deshalb blieb ihr nur die Möglichkeit, von diesem gut einsehbaren Ort zu verschwinden. Anna rappelte sich auf und hinkte langsam auf die dichter werdenden Erlen zu, hinter denen der Fichtenwald begann. Obwohl eine Begegnung mit einem Bären – dem Bären – im Schutz der Bäume wahrscheinlicher war, hatte Anna wie jedes verletzte oder verängstigte Tier das Bedürfnis, sich zu verstecken.
    Langsam und ihr verbeultes Knie schonend, humpelte sie über den steinigen Boden und vorbei an dem winzigen See. Da ihr ihre Augen kaum etwas nützen würden, ehe nicht der Mond aufging, blieb sie immer wieder lauschend stehen. Sie spitzte zwar die Ohren, um Geräusche von Rory und Joan aufzufangen, doch der Großteil ihrer Aufmerksamkeit galt der Frage, ob der Bär sich noch in der Gegend herumtrieb. Aber sie hörte nur die Laute, die sie selbst erzeugte.
    Hinter den Erlen war es stockfinster. Anna verlor jegliche Orientierung. Sie wusste zwar, dass sie sich unvernünftig verhielt und sich in Gefahr brachte, ging jedoch trotzdem weiter. Nirgendwo konnte sie sich sicher fühlen. Kein Ort erschien ihr geeignet, um Rast zu machen. Die kleine Lichtung war zu offen und zu nah am Wasser, wohin die Bären kommen würden, um zu trinken. Das Unterholz war zu dunkel und bedrückend. Ihr Knie schwoll an, und die dumpfen Kopfschmerzen hatten sich in ein Pochen verwandelt. Dennoch gelang es ihr nicht, anzuhalten.
    Weil der Schutzheilige der verlorenen Seelen – oder der Narren – ihre Schritte lenkte, landete sie nicht am Rand einer Klippe oder eines Abgrunds, sondern in einem baumlosen Gebiet jenseits des Waldes.
    Der Mond war zwar noch immer nicht aufgegangen, doch der Himmel selbst verbreitete ein dämmriges Licht. Nach dem blinden Gewaltmarsch durchs Gebüsch empfand Anna es als Erleichterung, dass ihre Augen endlich wieder ihren Dienst taten. Der Drang, sich zu bewegen, ließ ein wenig nach. Das und die Schmerzen im Knie überzeugten sie schließlich, dass es das Ratsamste war, eine Rast einzulegen.
    Anna lehnte den Rücken an eine Fichte, streckte das Bein aus, trank Wasser und lauschte. Ein Stück entfernt – sie wusste nicht, ob es ein Meter oder ein Kilometer war – ertönte das

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