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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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das winzige Fleckchen Erde, wo ihre Fesseln sie schon viel zu lange festhielten.
    Die Taschenlampe rollte hin und her, sodass die Schatten wild umhertanzten. Schließlich blieb sie liegen. Das Brüllen verstummte. Auch die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Annas Arme bebten, und das Gewehr wurde ihr zu schwer. Ein dünnes Wimmern durchdrang die plötzliche Stille. Ob von Anna, McCaskil, Rory oder Joan – es war unmöglich festzustellen.
    Ein Stück außerhalb der Reichweite der Taschenlampe erzitterte die Dunkelheit und begann, sich zu verändern. Anna zielte mit dem Weatherby auf die Erscheinung und wartete. Inzwischen war sie über die Angst hinaus und gerade noch diesseits des Wahnsinns.
    Goldene Wellen durchzuckten den Schatten, sodass sich das fahle Licht der Taschenlampe in ihnen brach. Aus dem Wald kam der gewaltige Grizzly getrottet. Neben ihm ging der weinende Junge mit dem Lächeln eines Heiligen. Auf der anderen Seite des Bären spazierte Rory, derselbe Rory, dessen Schreie eigentlich darauf hingedeutet hatten, dass er zum Bärenimbiss geworden war.
    Anna wurde schwindelig, als ihr das Märchenhafte dieser Szene bewusst wurde. Dieser Bär war bei ihnen, ihr Begleiter, ein golden schimmernder Beschützer von Kindern, die sich im Wald verirrt hatten. Unzählige Geschichten von wilden Tieren, die sich in Menschen, ja, verwunschene Prinzen verwandelten und an denen sich Flüche erfüllten, waren so zum Greifen nah, dass Anna verzaubert und betört verharrte und schließlich wie eine ungehorsame Waldnymphe zu Holz und Rinde wurde. Sie war unfähig, sich zu rühren, und ihre Stimme steckte tief in ihrer Kehle fest.
    »Erschießen Sie ihn nicht«, sagte der Junge, als ob Anna fähig gewesen wäre, so viel Schönheit zu zerstören, und sei es, um ihre eigene wertlose Haut zu retten. »Er heißt Balthazar.«
    »Wie geht es dir?«, krächzte Anna albernerweise. Zu ihrem Erstaunen hob der Bär eine riesige Tatze, um ihr die Hand zu schütteln. Anna musste lachen und fand, dass sie ein wenig hysterisch klang.
    Offenbar hatte sich McCaskil, da Rory sich trotz des Bärengebrülls bei bester Gesundheit befand, von seinem Schrecken erholt, denn er kroch auf den dunklen Wald zu. Der enorme Schädel des Bären wandte sich ihm zu, und eine leisere Version des markerschütternden Knurrens stieg in seiner Brust auf.
    »Halt das verdammte Biest von mir fern!«, rief McCaskil mit vom Herumschreien heiserer Stimme.
    »Balthazar mag ihn nicht«, erklärte Geoffrey. »Als wir noch klein waren, hat er uns immer schrecklich geärgert.«
    Wir. Der Junge und der Bär waren gemeinsam aufgewachsen. Verwirrt von dieser unwirklichen Szene, ertappte Anna sich bei der Frage, ob die beiden Brüder waren.
    Allerdings hatte ein Rest ihrer Berufserfahrung dem Ansturm von Übernatürlichkeit widerstanden, weshalb sie McCaskil weiter mit einem Auge und der Hälfte ihres sich drehenden Verstandes beobachtete. Der Mann fürchtete sich mehr vor Balthazar als vor ihr oder dem Weatherby.
    »Sie dürfen den Bären nicht auf mich hetzen«, beklagte er sich. »Das ist ungesetzlich.«
    Anna schwieg. Falls der Bär William McCaskil auffressen sollte, würde sie sich höchstes Sorgen um die Verdauung des Tiers machen.
    Ihr tat der Kopf weh, ihr Knie brachte sie um, und sie war sehr müde. Doch noch wichtiger als diese vergänglichen Unpässlichkeiten war der legendäre Bär, der keine drei Meter von ihr kauerte. Sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, mit ihm zu spielen und sich seine Geschichten anzuhören. Kurz überlegte sie, ob sie McCaskil laufen lassen sollte. Nervlich zerrüttet und ohne sein Gewehr, bedeutete er keine Bedrohung für eine fünfköpfige Übermacht, insbesondere deshalb, weil ein Mitglied der Gruppe über fünfhundert Kilo wog und ab Werk mit einem erstaunlich scharfen Waffenarsenal ausgestattet war.
    Ruick würde McCaskil im Tal festnehmen. Oder die Polizei von Montana erwischte ihn irgendwann. Ein Wahnsinniger, der Bedürftigkeit ausstrahlte. Er wirkte eher kläglich, wie er versuchte, sich unbemerkt in den Wald und in die vorübergehende Freiheit davonzustehlen. Von einer verwundeten Parkpolizistin gefangen genommen zu werden, wäre eine zusätzliche Demütigung gewesen.
    Dieser Gedanke löste die kleinliche Rachsucht aus, die Anna wieder an ihre Pflichten erinnerte. »Hiergeblieben«, befahl sie McCaskil.
    »Sie dürfen nicht auf einen fliehenden Menschen schießen, solange keine Lebensgefahr von ihm ausgeht. Das habe ich

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