Blutköder
gelesen«, beharrte McCaskil, unternahm aber nichts, um die Probe aufs Exempel zu machen.
»Genau das trifft auf Sie zu«, entgegnete Anna knapp. McCaskil hatte aufgegeben. Anna glaubte nicht, dass sie sich irrte. Sie hatte es schon zu häufig erlebt: die Erschlaffung, wenn die Kraft nachließ, die es kostete, den Kampf, die Lüge oder das Theater aufrechtzuerhalten. Dennoch war sie weiterhin wachsam. Es waren schon klügere Menschen als sie ausgetrickst worden und deshalb ums Leben gekommen.
Rory griff nach dem Bolzenschneider und befreite Joan. Während Joan die Taschenlampe und Anna das Gewehr zückte, fesselte McCaskil seine eigenen Hände und Füße mit den Plastikhandschellen, die Geoffrey im Rucksack des Mannes entdeckt hatte. Balthazar, der riesige goldene Bär, kauerte auf seinen gewaltigen Hinterbeinen und beobachtete sie mit weisen Augen wie eine urzeitliche Gottheit.
Es war ein so unwirkliches Gefühl, dass Anna wieder schwindelig wurde. Sie konnte nicht aufhören, mit spitzen Bemerkungen um sich zu werfen und Witze zu reißen. Die Anspannung lag zwar noch in der Luft, doch die Angst ließ allmählich nach, sodass sich alle, bis auf William McCaskil, von Annas Laune anstecken ließen. Bald schwebte eine aufgekratzte Feierstimmung in der Dunkelheit zwischen den Bäumen.
Als Anna McCaskils Fesseln kontrollierte, musste sie sich beherrschen und zwang sich, auf jede Einzelheit zu achten und den Vorgang ernst zu nehmen, einen Straftäter zu verhaften und ihn an der Flucht zu hindern.
Nachdem ihr provisorischer Lagerplatz so gut abgesichert war wie mit Plastikhandschellen möglich, richtete Joan McCaskils Kocher auf und erhitzte Wasser für heiße Getränke. Anna hätte ihre Stiefel gegen einen Schluck Brandy eingetauscht, um ihren Tee ein wenig nachzubessern, war aber auch so froh über das Gebräu.
Die alltägliche Beschäftigung, Tee und Kakao zu verteilen, hätte eigentlich dafür sorgen müssen, dass wieder Normalität einkehrte – hätte da nicht ein gewaltiger Bär zwischen ihnen gesessen, der mit dunklen Augen jede ihrer zwergenhaften Bewegungen beobachtete. Sein hellgoldener Bauch wölbte sich buddharund unter tellergroßen Tatzen.
»Wir müssen miteinander reden«, begann Anna, als das Zischen des Kochers verstummte und sie noch einmal überprüft hatte, ob McCaskil auch richtig gefesselt und mit der Kette, die sonst als Balthazars Leine diente, an den Baum gebunden war.
»Du heißt nicht Mickleson-Nicholson, sondern Geoffrey Micou, richtig?«, fragte sie.
Der Junge saß, die Arme um die Knie geschlungen, da und wirkte müde, erleichtert und unglaublich traurig. Er war jünger als Rory, schätzungsweise fünfzehn. Sein seidiges braunes Haar war fettig und von einer Baseballkappe platt gedrückt worden, die Balthazar inzwischen in die Tatzen bekommen hatte. Nun war der Bär dabei, sie mit seinen zweieinhalb Zentimeter langen Schneidezähnen systematisch zu zerlegen.
»Ich bin Geoffrey Micou. Den anderen Namen habe ich … einfach erfunden.«
»Carl G. Micou war dein Dad?«, erkundigte sich Anna, worauf er sie überrascht ansah. Ihr fiel der Spruch mit dem Wortlaut ein, dass Alter und Hinterlist immer siegten. Ein Junge wie Geoffrey war noch überzeugt davon, dass jeder seiner Gedanken neu und auf der Welt einzigartig war. Er musste erst lernen, dass alle Geschichten schon einmal erzählt worden waren. Man hatte lediglich die Möglichkeit, diejenige auszuwählen, die einem am besten gefiel, und sie zu leben.
»Wir haben deinen Pick-up und den Anhänger gefunden – den Pick-up von deinem Dad«, erklärte Anna. »Er ist auf Carl Micou zugelassen.«
»Oh.« Geoffrey klang enttäuscht. Ein Zauberkunststück verlor seinen Reiz, wenn man den Trick erklärte. »Damit haben wir Balthazar transportiert. Dad hat ihn umgebaut.«
»Ich weiß«, erwiderte Anna. »Der Ranger hat Allesfresserfutter darin entdeckt.« Sie erwähnte nicht, dass sie das Futter anfangs nicht erkannt hatten. Es war besser, allwissend zu erscheinen. Außerdem machte es Spaß.
»Er hat ihn gestohlen, verdammt«, mischte sich McCaskil mit schneidendem Ton ins Gespräch ein. »Der Bär gehört mir.«
Joan drehte sich zu ihr um. Anstelle ihrer üblichen Lagerfeuerkerze hatten sie McCaskils Taschenlampe aufrecht in ihre Mitte gestellt. Schließlich mussten sie ihren Gefangenen im Auge behalten und außerdem – zumindest galt das für Anna – in grenzenloser Ehrfurcht den Bären bestaunen. Im Dämmerlicht wirkten Joans Züge
Weitere Kostenlose Bücher