Blutköder
schwarzen Fleck im Mundwinkel, der Blut oder Schmutz sein konnte. Ihre Handgelenke und Knöchel waren zusammengebunden, sodass sie vornübergebeugt und mit den Ellbogen um die Knie dasitzen musste. Rory kauerte neben ihr. Seine Knöchel waren ebenfalls gefesselt, doch er hatte die Hände frei. Die Handflächen nach oben gewandt, hielt er sie sich vors Gesicht, als wolle er fühlen, ob es regnete. Zu seinen Füßen lagen der umgekippte Kocher und eine Pfanne.
Anna nahm an, dass Rory den Auftrag gehabt hatte zu kochen. In einem Wutanfall hatte der Mann mit der Taschenlampe den Kocher umgetreten und dabei Rory die Hände verbrannt.
»Verdammt!«, brüllte der Mann. Er schwenkte die Taschenlampe wie ein Schwert, sodass der Lichtstrahl einige Meter links von Anna die Dunkelheit durchdrang. Bill McCaskil starrte sie an. »Komm sofort raus, sonst puste ich den beiden die verfluchte Rübe weg!«, schrie er mit überschnappender Stimme.
23
Der Bill McCaskil mit Gewehr und Taschenlampe war ein völlig anderer Mensch als der zwielichtige Schwerenöter, den Anna bis jetzt kennengelernt hatte. Die Tage allein in der Wildnis hatten dem eingefleischten Städter nicht sehr gutgetan. Sein Gesicht war bartstoppelig, das verfilzte Haar stand ihm zu Berge, und seine Kleider waren schmutzig. Doch am auffälligsten waren seine Augen. McCaskil hatte Angst, und zwar so sehr, dass sein Verstand darunter gelitten hatte. Selbst im Dämmerlicht der Taschenlampe sah Anna, dass seine Gesichtsmuskeln die Lider anspannten und dass die Iris von einem weißen Rand umgeben war. Ganz gleich, auf welchen Abgrund McCaskil bei seiner Ankunft im Glacier zugesteuert sein mochte, inzwischen war er offenbar über die Kante gestürzt.
Ein Geisteskranker, ein Geisteskranker in Panik mit einem Gewehr und Geiseln. Bei der Polizei galt so eine Situation als Supergau.
»Rauskommen«, rief McCaskil mit vor Furcht schriller Stimme. Als er mit dem Gewehr auf Rory und Joan zielte, trat Anna mit erhobenen Händen vor. Doch sie erreichte den Lichtkegel nicht. McCaskil wirbelte brüllend herum, sodass der Schein der Taschenlampe über die Bäume glitt. Er hatte sie nicht entdeckt.
»Ich werde ihm nichts tun.« Sein Tonfall wurde flehend, während er sich weiter drehte. Darauf folgte Schweigen, das Dunkelheit und Bäume noch verstärkten. »Balthazar gehört mir!«, kreischte er so laut, dass Anna zusammenzuckte. Offenbar galt sein Ausbruch nicht ihr. Vermutlich hatten Joan und Rory ihm weisgemacht, dass sie allein waren. Dankbar für ihren Mut, schlich Anna um den Lagerplatz herum. McCaskil war nicht mehr verhandlungsfähig, selbst wenn sie ihm etwas zu bieten gehabt hätte. Also war Flucht die beste Möglichkeit. Im Schutz der Dunkelheit würde sie mühelos entkommen können, wenn sie Joan und Rory zurückließ.
Ein ohrenbetäubendes Gebrüll sorgte dafür, dass diese feigen Überlegungen zu Eis erstarrten. Ein Bär – der Bär –, und zwar ganz in der Nähe. McCaskil schrie gellend auf. Das Gewehr an seiner Seite gab einen Schuss ab, sodass das Mündungsfeuer grell aufleuchtete. Im nächsten Moment war es wieder verloschen. Anna hatte noch einen roten Lichtblitz wie eine Wunde vor Augen.
»Ich bringe sie um. Dann hast du sie auf dem Gewissen«, rief er in die Nacht hinein. »So wie du die Van Slyke zerstückelt hast, du Metzger. Ich werde es tun.«
Eine Welle der Todesangst ließ Anna den Mageninhalt die Kehle hinaufsteigen, und es kostete sie Mühe, den Brechreiz zu unterdrücken.
Anscheinend trieb sich der Gesichtsaufschlitzer ganz in ihrer Nähe in der Dunkelheit herum. Er und ein gewaltiger Bär, der offenbar seine eigenen Pläne hatte.
Lauf weg, lauf weg, dachte sie und pirschte sich zum nächsten Baum, dichter heran an Joan und Rory.
Die beiden saßen Schulter an Schulter etwa fünf Meter vom tobenden McCaskil entfernt. Sein Geschrei, ein zweiter Schuss und das Trampeln seiner Stiefel, als er immer wieder auf Geräusche zustürmte, die nur er hören konnte, übertönten Annas Schritte.
Da es am Westhang trockener war als in den Tälern, war das Unterholz spärlich, sodass man sich auf den Schutz der Dunkelheit und auf sein Glück verlassen musste. Anna bezog Posten hinter einem Baum, von dem sie hoffte, dass er dick genug war, um sie zu tarnen, falls McCaskil die Taschenlampe auf sie richten sollte. Sie trug zwar ein graues Hemd und grüne Shorts, was ein Vorteil war, doch wenn das Licht ihre nackten Arme und Beine oder ihr Gesicht traf, würden
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